Parlament: Die Rohen und die Ausgekochten
Um die Zeit der Wintersonnenwende treffen sich die Emmdébebes, um den Ritus der Haushaltsdebatte zu begehen. Ein ethnografischer Bericht mit Deutungsversuch.
Der Ritus der Haushaltsdebatte spielt eine herausgehobene Rolle im Leben der Emmdébebes . Praktiziert wird er um die Wintersonnenwende im kleinen Reservat der Emmdébebes auf dem Territorium Bremens.
Diese Population, von der einst irrtümlich angenommen wurde, sie sei im Fortbestand gefährdet, erneuert sich tatsächlich durch ein, in mehrjährigen aber regelmäßigen Abständen durchgeführtes, streng kodifiziertes Verfahren, das nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sein kann. Stimmiger wirkt daher ihre Beschreibung als eine Art fluktuierender Priesterkaste des Landes.
Bei der Haushaltsdebatte handelt es sich um ein Rede-, mitunter auch Schrei-Ritual. Es organisiert sich in erster Linie durch musikalische Parameter. Deren Primat spiegelt die räumliche Struktur des Kultplatzes, des so genannten Plenarsaales: Die entscheidende Staffelung erfolgt dabei entlang der Vertikalen von unten nach oben.
Überraschend dabei ist, dass der Lärm, den wir als universelles Symbol von Macht kennen, mit größerer räumlicher Höhe gerade abnimmt. So nutzt das ebenerdig platzierte Plenum Tische als Schlagwerk, das flachhändig oder mit Knöcheln in getragenen Rhythmen bedient wird, ergänzt durch lautes Rufen und fortwährendes Murmeln. Auf mittlerer Höhe erheben aus ihrer Mitte entsandte SolistInnen ihre Stimme. Den höchsten Platz nimmt unter zwei Löwen-Darstellungen eine Person ein, die nur in den Gliederungsmomenten des über viele Stunden sich erstreckenden Rituals spricht: Sie benennt die jeweiligen Einzel-RednerInnen. In dieser Figur, die in der Sprache der Emmdébebes als "der Weber" oder auch "der Präsident" bezeichnet wird, resümiert sich mittels eines Attributs die gesamte Spannung der Debatte: Vor ihr ruht eine Messingglocke mit Handgriff, die, als virtueller Lärm, ihr Schweigen am prägnantesten symbolisiert.
Die Emmdébebes gliedern sich in zwei Gruppen, die sich wiederum in sechs Untergruppen teilen - fünf Bruderschaften, die Fraktionen heißen sowie die Einzelgänger, die als Ausgestoßene an der Gemeinschaft der Emmdébebes partizipieren. Die Namen der "Fraktionen" bilden keine für uns erkennbare Reihe, sie beziehen sie etwa aus dem Farbspektrum (Grüne), der Händigkeit (Linke), der Theologie (Christliche), was die Annahme nahe legt, dass Verbindungen keinerlei Tabu unterliegen.
Die grundlegende Zweiteilung spiegelt das Rede-Ritual durch eine Metaphorik des rohen Angriffs durch die kleinere Gruppe, den die größere auf möglichst ausgekochte Weise zurückweist. Es liegt auf der Hand, dass wir im Ritual einem symbolischen Kampf beiwohnen. Dessen semantisches Zentrum bildet das Begriffspaar Mut und Angst, wobei die jeweils gegnerische Gruppe als "feige", "leisetreterisch", "mut- und kraftlos" zu verhöhnen ist. Es werden unterschiedliche Mythologeme aufgerufen, oft der gut dokumentierte von der Schuldenbremse, nicht selten auch heilige Zahlenwerke. Kondensiert fanden wir diese Elemente im Ausruf des Grünen-Solisten Hermann Kuhn: "935 Millionen, das ist schon eine Zahl angesichts der einem das Herz in die Hose rutschen kann!"
Auch hier bestätigt sich die Annahme eines Zusammenhangs von Lautstärke und Macht. So folgen die fixierten Redezeiten der SolistInnen der Gruppengröße, zudem reagieren die perkussiven Chöre stets nur auf die aus den eigenen Reihen entsandten SprecherInnen.
Terminierung des Rituals und frequente Zukunftsbezogenheit der Beiträge legen nahe, dass das Ritual den Kampf zwischen Winter und Sommer darstellend eine mantische Funktion erfüllt: Die Ungewissheit des Kommenden wird durch den symbolischen Streit um Angst und Mut beseitigt, sie wird beherrschbar gemacht. Wer laut ist, legt die Zukunft fest.
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