Paris darf nicht brennen : Nichts rechtfertigt die tobende Wut
Die Gewaltexzesse in Frankreichs Vorstädten brauchen eine doppelte Antwort: Hartes Durchgreifen des Staates und eine EU-weite Schul- und Ausbildungspflicht, um diesen jungen Männern in ganz Europa Chancen zum Dazugehören zu eröffnen.
Von UDO KNAPP
taz FUTURZWEI, 11.07.2023 | In den Vorstädten vieler französischer Städte („Banlieues“) leben in manchen Hochhausriegeln mehrere tausend Franzosen mit migrantischem Hintergrund auf engem Raum. Diese Vorstädte sind nur schlecht an die Zentren ihrer Städte angebunden. Hier gibt es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, im Schnitt zwischen 17 und 20 Prozent. (Zum Vergleich: In der Bundesrepublik sind es aktuell etwa 7 Prozent). Die Mehrheit der Jugendlichen in diesen Banlieues verlässt die Schulen ohne Abschluss – und berufliche Perspektive. Wegen der Deindustrialisierung, die mit Digitalisierung und KI verknüpft ist, gibt es für ungelernte, ungebildete junge Männer keine für sie passenden Industrie-Arbeitsplätze mehr.
In den letzten 20 Jahren haben alle französischen Regierungen mit Millionen die soziale Infrastruktur in den Banlieues verbessert. Die Hochhausriegel wurden saniert, Schulen, Kindergärten, Sozialstationen, Jugendzentren etcetera wurden aufgebaut. Am Hass der jungen Männer auf die, aus ihrer Sicht „weiße“ Mehrheitsgesellschaft hat das nichts geändert. Armut, soziales Gefälle, Desorientierung, Exklusion und eine rassistisch aufgeladene Polizeipraxis gehören zu ihrem Alltag.
Immer wieder reicht ein einziger ungerechter Übergriff von Polizisten auf einen der Ihren, um maßlose Orgien der Gewalt loszutreten. Es ist eine Gewalt, die sich gegen die eigenen Überlebensstrukturen in den Banlieues richtet. Da gibt es Plünderungen, eingerissene Bushaltestellen, abgefackelte Kindergärten, Jugendzentren und sogar Bibliotheken, brennende Polizeistationen und Versuche, Rathäuser zu stürmen.
Versagen der bürgerlichen Politik
Diese Gewalt-Exzesse in Frankreichs Vorstädten gibt es schon seit 2005. Am Versagen der bürgerlichen Politik, Angebote zu entwickeln, mit denen diesen jungen Männern ein Weg in die Mitte der Gesellschaft geöffnet würde, hat sich seither nichts verändert. Stattdessen wird selbstzerknirscht der eigene Rassismus gegenüber den Zugewanderten beklagt, wird von gescheiterter Integration und verweigertem Dazugehören gesprochen.
Im politischen Alltag der Parteien spielen die Aufstände der jungen Männer den Rechten um Marine Le Pen in die Hände. Sie verlangen, die Aufstände mit allen Instrumenten staatlicher Gewalt zu unterdrücken. Ziel ist es, diese Gewalt für die Destabilisierung der demokratischen Strukturen zu missbrauchen.
»So überaus schrecklich und überaus ungerechtfertigt der Tod des jungen Nahel war: Nichts rechtfertigt diese tobende Wut, die, wie es Hannah Arendt in ihrem Essay über die Gewalt formulierte, zum „Albtraum für jeden“ mutierte.«
Bernard-Henri Lévy in der Süddeutschen Zeitung
In diesen Aufständen scheint ein Stück der kommenden gesellschaftlichen Realität Europas auf. Durch Zuwanderung, die in allen europäischen Ländern aus ökonomischen Gründen notwendig ist, wird sich der Anteil der Bevölkerung mit migrantischem Hintergrund immer weiter erhöhen. In Frankreich sind das heute 27 Prozent der Gesamtbevölkerung. Wie immer in Zeiten von Welt-Wanderungsbewegungen müssen die lokal-traditionellen und die mitgebrachten Werte und Ideen zu erneuerter gesellschaftlicher Gemeinsamkeit zusammengeführt werden.
Neujustierung des Zusammenlebens
Bis ein neues gesellschaftliches Subjekt und stabile politische, breit getragene Strukturen neu befestigt sind, werden Rassismus, Exklusion, politische und persönliche Ungerechtigkeiten auf vielen Ebenen gegenüber den Dazugekommenen, genauso wie provozierende, schwer zu ertragende, parallelgesellschaftliche Strukturen zum politischen und gesellschaftlichen Alltag in ganz Europa gehören.
Denn beide Seiten, die Dazugekommenen und die Alteingesessenen, müssen sich auf eine Neujustierung ihres Zusammenlebens einlassen. Das ist schwierig. Die Vorstellung, dass die Dazugekommenen sich gefälligst an das hier Vorgefundene anzupassen haben, damit alles so weiter geht, wie bisher, ist genauso ein Selbstbetrug, wie die Vorstellung der Dazugekommenen, sie müssten von ihren mitgebrachten Werten und Regeln nichts aufgeben und könnten so weiterleben wie in ihren Herkunftskulturen.
Für diesen Prozess der Neubefestigung von für alle geltenden, gesellschaftlichen Werten gibt es mit dem Grundgesetz, der europäischen Charta der Menschenrechte und den europäischen Wurzeln der westlichen Zivilisation geeignete Instrumente, den unverhandelbaren Rahmen mit dem die neue Einheit des gemeinsamen Lebens hergestellt werden kann. Allerdings wird der Prozess mehrere Generationen brauchen. In dieser langen Zeit wird es Verlierer und Gewinner und vor allem für die Dazugekommenen höhere Belastungen, Druck und Ungerechtigkeiten geben. Das rechtfertigt aber das Ausmaß der Gewalt in den Banlieues genauso wenig, wie die Forderung, Migration grundsätzlich zu verbieten und sich in einer Festung Europa einzumauern.
Wege in die Mitte der Gesellschaft
Gewaltorgien marodierender junger Männer sind in ganz Europa vorstellbar, auch hier in der Bundesrepublik. Sie brauchen eine harte und kompromisslose Antwort des Rechtsstaates. Das Gewaltmonopol nach innen kann und muss sich nötigenfalls auch mit Gewalt verteidigen. Polizei, Staatsanwaltschaften und Richter brauchen aber für das legitime und legale Durchsetzen von Recht und Gesetz ohne Ansehen der Herkunft vor allem das Vertrauen der Bürger und der Politik.
Zugleich aber müssen vor allem für die Jungen verpflichtende Wege gefunden werden, die verhindern, dass sie sich – wie gerade in Frankreich – als entwurzelte Wesen eine eigene Kultur und eine eigene Welt erfinden, in der sie sich ohne Beachtung von Recht und Gesetz weitgehend unbehelligt und auch selbstzerstörerisch bewegen können. Schule, Ausbildung und Arbeit, eine öffentliche Erziehung, könnten die gesellschaftlichen Orte und Mittel sein, die ihnen zwingende Wege in die Mitte der Gesellschaft weisen.
Eine EU-weite Schul- und Ausbildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr wäre ein geeignetes Instrument und sehr viel hilfreicher, als den Eltern, wie jetzt in Frankreich, mit Bußgeldern zu drohen, wenn sich ihre Kinder an den Gewaltorgien beteiligen.
Kein Jugendlicher würde nach diesem Modell Schule oder überbetriebliche Ausbildung vor dem 18. Lebensjahr und ohne einen lebenspraktisch tauglichen Abschluss verlassen. Eine solche öffentliche Bildungs- und Ausbildungspflicht könnte gerade den heute marodierenden Jungen aus den Gemeinschaften der Zugewanderten Chancen zum Dazugehören in der ganzen Gesellschaft eröffnen. Es wäre ein Weg in eine gemeinsame Zukunft.
UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.