Paradies- und Krähenvögel revisited : Biologische Sinnsuche im „Glücksbezirk“
von Helmut Höge
Paradiesvögel, Laubenvögel und Krähenvögel haben einen gemeinsamen Ursprung in der Inselwelt Neuguineas. Die ersten beiden leben noch immer dort. Sie sind heute vom Aussterben bedroht, während die Krähen sich nahezu über den ganzen Erdball ausgebreitet haben – und wie die Menschen inzwischen massenhaft vom Land in die Städte ziehen. Das alles gelang ihnen, weil sich diese schwarzen Vögel im Gegensatz zu den bunten irgendwann den „Fortschritt“ auf ihre Fahnen geschrieben haben.
Die männlichen Paradiesvögel schaffen es mit ihrer Schönheit, die Weibchen flachzulegen. Die Laubenvögel, die ebenfalls nicht singen können, locken die Weibchen mit farbigen Ornamenten in ihre Laube, wo sie sie blitzschnell von hinten besteigen. Danach verpissen sich die einen wie die anderen Männchen. Nicht so bei den Krähenvögeln, die weder singen noch Kunst machen können und die Weibchen auch nicht mit ihrer Schönheit rumkriegen, denn sie sehen jenen zum Verwechseln ähnlich. Was tun? Sie beteiligen sich einfach am Nestbau, verteidigen es und ernähren die brütenden Weibchen. Danach ziehen sie mit ihnen gemeinsam die Jungen groß. Diese „Idee“ war einst super-„fortschrittlich“, wie der bayerische Biologe Josef Reichholf das nennt. Die Menschen taten es ihnen später nach: Statt Rudelbumsen oder Polyamorie war auch bei ihnen irgendwann lebenslängliches monogames Familienleben das Nonplusultra.
Krähen mit Kinderwagen
Wenn wir uns nun den „Projekt Kinder“-Bezirk Prenzlauer Berg angucken – die Sozialforscherin Anja Maier hat das für uns getan: siehe ihr Buch „Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter“, dann haben wir noch einmal Neuguinea im Kleinen vor uns: Die Paradiesvögel, das sind dort die braungebrannten Schönen, und die Laubenvögel, das sind die Künstler. Beides Antidarwinisten: Sie wollen ihre Gene nicht vererben – wegen Hängebrüsten, -bäuchen und anderer Aufzugskosten (wie Kinderklamotten, Kitagebühren, Alimente etc.). Wohl aber die Krähenvögel – das sind hier die Pärchen mit den „nachtschwarzen Kinderwägen im Hochpreissegment“ (A. M.), die den Bezirk mit ihrem mormonengleichen „Familialismus“ dominieren und alle anderen verdrängen.
Maier kann dazu mit Zahlen für diesen „Muttibezirk“ aufwarten: 5.000 Kinder werden hier alljährlich geboren, Tendenz steigend. Jedoch: Im Kapitalismus zersetzt sich – Marx und Engels haben das beizeiten an die Wand gemalt – die „Familie“. Erst recht jetzt in der postindustriellen Gesellschaft, da die Frauen mehr und besser als Ernährer taugen. Ihre Kindsväter können sich ihnen höchstens noch vorübergehend als staatlich alimentierte Hausmänner andienen. „Wir können nicht mehr so tun, als handele es sich hier noch um eine ernst zu nehmende Familie“ (Sandor Marai). Das geht also nicht lange gut. Anja Maier fand traurige Beispiele – und Zahlen: 26 Prozent aller Prenzlauer-Berg-Mütter sind heute Alleinerziehende, hinzu kommen 1 Prozent alleinerziehende Väter. Dafür jedoch laut Jugendamt 12.000 flüchtige „Rabenväter“.
Was einmal, mindestens bei den Krähenvögeln, „fortschrittlich“ war – die gemeinsame Sorge um den Nachwuchs –, ist bei den Menschen in Prenzlauer Berg heute zu einer üblen Falle geworden, die man ihnen mit sarrazinistischen Promi-Ehe-Sendungen und Promi-Kinderkriegerei-Berichten schmackhaft macht. Fundiert wird diese Riesensauerei vom allgegenwärtigen US-Darwinismus, der ihnen versichert, dass der wahre Lebenssinn nur im „egoistischen Gen“ zu finden ist. Die Krähen sind da schon weiter als die Muttis im Berliner „Glücksbezirk“ (A. M.): Sie haben sich neuerdings zwei Männchen angelacht, die ihnen und ihrer Brut das Überleben sichern. Josef Reichholf stellte fest: Allein in München sind bereits 50 Prozent aller Krähenpaare „Trios“. Und David Attenborough berichtete auf BBC von einer englischen Spatzenart, bei der es ähnlich ist – allerdings brauchen die Weibchen das zweite Männchen nur zum Vögeln (scheinheilig erklärte der berühmte Tierfilmer: „Warum das so ist, wissen wir nicht“).
Wie viel bitteres Leid und verhärmenden Überlebenskampf bliebe den armen Menschenmüttern im „Sexymama“-Kiez (A. M.) erspart, wenn sie sich den Münchner Krähen gleich ebenfalls wieder an die Spitze des Fortschritts setzten und „Trios“ (statt „Bios“) bilden würden. So wie es jetzt ist, gehen sie jedenfalls elendig zugrunde – spätestens wenn ihre Jungen ausgeflogen sind – und ihre biologische Sinnfindung mit ihnen. Die darwinistische Biologie ist, so viel kann man sagen, auf Dauer vollkommen sinnlos: reine Populationsarithmetik, aus der sich für das einzelne Individuum (ob Mensch- oder Krähenmutter) kein Honig rauslutschen lässt.