Panter-Preis-Kandidat: Er bringt Vätern das Weinen bei
Als Kazim Erdogan in den Siebzigern in Abschiebehaft saß, fühlte er sich wie ein Versager. Heute hilft er türkischstämmigen Männern, sich von Rollenbildern zu befreien.
Die Männer, mit denen sich Kazim Erdogan jeden Montagabend trifft, wollen sich um ihre Familien kümmern. Gute Väter sein. Aber wie man das macht, wissen sie nicht.
Sie sind zwischen 18 und 67 Jahre alt und haben vieles falsch gemacht. Sich aus Haushalt und Erziehung rausgehalten, manche haben ihre Kinder geschlagen oder ihre Partnerinnen. Viele wurden von ihren Frauen verlassen, sind plötzlich alleinerziehende Väter. Für die türkischstämmigen Männer ist das neu.
Der Berliner Psychologe Kazim Erdogan trifft sich einmal in der Woche mit ihnen, um zu reden. In einer ehemaligen Kindertagesstätte leitet er die Vätergruppe des psychosozialen Dienstes Berlin-Neukölln. Die Vorurteile über die sogenannte türkische Parallelgesellschaft kennt er genauso gut wie die Ressentiments von Migranten gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft.
In seinem Büro mit der großen Fensterfront serviert Kazim Erdogan Tee und Kekse. Erdogan ist ein schmaler, etwas gebeugter Mann mit schütterem Haar. Blaues Hemd, graue Hosen. In einer Ecke seines Büros blubbert ein Samowar, an den Wänden hängen Kinderzeichnungen und Fotos von seinem Heimatdorf.
Die Nominierten: Sechs KandidatInnen hat unsere Jury für den Panter Preis 2011 vorausgewählt. Der Preis zeichnet HeldInnen des Alltags aus, die sich selbstlos, mutig und kreativ für andere einsetzen. Heute stellen wir Ihnen Kazim Erdogan vor, der unter anderem eine Vätergruppe für türkischstämmige Männer in Berlin leitet.
***
Die Verleihung: Der Preis wird am 17. September in Berlin unter der Schirmherrschaft der taz Panter Stiftung verliehen. Es sind zwei Preise, dotiert mit je 5.000 Euro. Einen vergibt eine taz-Jury mit prominenter Hilfe, den zweiten, den LeserInnenpreis, vergeben Sie.
***
Die Portraits: Seit dem 18. Juni 2011 können Sie die KandidatInnen in der sonntaz und auf taz.de begutachten. Nach Rosmarie Lüttich, Eberhard Radczuweit, Petra Wollny, Norbert Denef und Kazim Erdogan stellen wir Ihnen hier in der kommenden Woche die letzte nominierte Person vor. Ab dem 30. Juli können Sie jeneN, die oder der Ihnen am preiswürdigsten erscheint, für den LeserInnenpreis wählen - per Mail oder per Post.
Paschas und Patriarchen
"Viele der Männer leiden unter einer inneren Zerrissenheit, die sie an ihre Kinder weitergeben", sagt Erdogan. "Dass jetzt darüber geredet und getrauert wird, ist neu unter den Vätern." Speziell für Männer gebe es kaum Angebote, die ihnen bei der Erziehung ihrer Kinder weiterhelfen. Deshalb gründete Erdogan 2007 die erste türkische Männer- und Vätergruppe. Mit zwei Teilnehmern fing er an, mittlerweile kommen bis zu fünfzig.
Gesprochen wird über Paschas und Patriarchen, über Ehre und Gesichtsverlust. Einmal erzählte einer der Männer, wie schwer es ihm falle, seine 16-jährige Tochter in den Arm zu nehmen. Für ihn sei sie schon eine Frau, deshalb wisse er nicht, wie er sie berühren könne, gleichzeitig wolle er ihr Zärtlichkeit geben. Mit Kazim Erdogans Unterstützung versuchen sich die Männer von Rollenbildern zu lösen, sich in ihrer veränderten Lebenssituation zurechtzufinden.
Erdogan sitzt oft schon um fünf Uhr morgens an seinem Schreibtisch. Manchmal bleibt er 15 Stunden am Tag, bis zu neunzig in der Woche. Mehr als zehn Projekte hat er in den letzten Jahren neben seiner Arbeit ins Leben gerufen. Seine neueste Initiative heißt "Kette der Kommunikation". Damit ruft er Menschen verschiedenster Nationalitäten auf, sich zu treffen und zu unterhalten. Über Integration sei jetzt genug debattiert worden, sagt Erdogan. Jetzt sei es an der Zeit, sich kennenzulernen.
Kazim Erdogan weiß, wie man sich fühlt, wenn man für andere ein Fremder ist. 1974 kam er aus einem ostanatolischen Dorf nach Deutschland. Sein Abitur hatte er mit "sehr gut" bestanden, nun wollte er an einer deutschen Universität studieren.
"Ich fühlte Scham hoch drei."
Während er auf seine Immatrikulation wartete, nahm er alle Jobs an, die sich ihm boten. Stand am Fließband, arbeitete als Nachtwächter, schleppte Kühlschränke und Waschmaschinen. Er sprach kein Deutsch, lebte mit der Angst vor Abschiebung. Mit einem Touristenvisum war er eingereist, hätte nach drei Monaten eigentlich wieder ausreisen müssen. Sieben Monate nach seiner Ankunft wurde er kontrolliert, noch am selben Abend saß er in Abschiebehaft.
"Ich fühlte Scham hoch drei. Man kommt ohne Geld in ein reiches Land und wird wieder rausgeschmissen. Da fühlt man sich als Versager." Ein Freund holte von der Universität die Bescheinigung über seine Immatrikulation. Die verschaffte ihm schließlich eine Aufenthaltsgenehmigung.
Sobald er ein wenig Deutsch konnte, half er Freunden bei Behördengängen, der Wohnungs- oder Arbeitssuche. Er studierte Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie. Zehn Jahre lang arbeitete er als Hauptschullehrer, dann wechselte er in die schulpsychologische Beratung. Seit 2003 ist er Psychologe beim Bezirksamt von Berlin-Neukölln. Der Stadtteil gilt als Problembezirk. Von den rund 305.000 Einwohnern sind 39 Prozent Migranten, die Arbeitslosenquote liegt bei etwa 20 Prozent.
Schon als Hauptschullehrer fiel Erdogan auf, dass die meisten Eltern von Einwandererkindern keinen Kontakt zur Schule hatten. Also rief er die Familien an, lud jeden Einzelnen persönlich zu den Elternabenden ein, organisierte türkische und arabische Dolmetscher. Die Vätergruppe ist nur einer von vielen Gesprächskreisen und Projekten, die er gründete.
Die Arbeit mit den Männern ist für ihn ein Erfolg. "Heute erlauben sie sich zu weinen, wenn sie erkennen, was sie ihren Kindern angetan haben", sagt Kazim Erdogan. "Ich erinnere sie an ihre Stärken – ihre Hilfsbereitschaft und Solidarität." Sie übernehmen Verantwortung, gehen zu Elternabenden, putzen in der Schule. Eine Gruppe hat sich T-Shirts drucken lassen: "Türkische Männer gegen Gewalt". So sind sie jetzt mit Erdogans Anliegen in Neukölln unterwegs.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend