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Der Kommentar

Pandemie und Politik Triumph der Idioten

Das eklatante Corona-Politik-Versagen der demokratischen Parteien kostet Menschenleben und kann die Demokratie in der Bundesrepublik in eine Existenzkrise treiben.

Kundgebung gegen Coronamaßnahmen Foto: dpa

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 23.11.21 | Unter den Tausenden, in ihrer Mehrheit Ungeimpften, die sich heute mit Corona infizieren, befinden auch die, die bis Weihnachten '21 an dem Virus sterben werden. Die Inzidenzen steigen, das Überlasten der Intensivstationen ist nicht aufzuhalten, die Ärzte in den Krankenhäusern müssen von nun an täglich entscheiden, wer von den Corona-Kranken die größten Überlebenschancen hat. Nur die kommen ins Intensiv-Pflegebett, die anderen werden aufgegeben.

Am Ende zeigt sich, dass die einzige Möglichkeit, die dünne Eisdecke der Zivilisation ausreichend stabil zu halten, nur durch eine möglichst kalte (sic!) liberale Anwendung des Rechts gelingen kann. (…) Rechte stehen allen zu, solange keine Rechte anderer justiziabel eingeschränkt werden. Wie gesagt, die dünne Eisdecke der Zivilisation braucht diese Kältegarantie.“

Armin Nassehi, Soziologe, Uni München, taz vom 31.Oktober 2021

Hier bleibt nur die Hoffnung, dass entsprechende Bestrebungen zur Beseitigung der Rechtsordnung auf den entschiedenen Widerspruch der Bürgergesellschaft treffen und es letztlich nicht zu einem schleichenden Erosionsprozess einer lebendigen Diskussions- und Debattenkultur kommt.“ - „Ja, der freiheitliche Verfassungsstaat stellt eine riskante Ordnung dar - und er ist sich dessen in vollem Umfang bewusst. Er akzeptiert das Risiko, um seiner Freiheitlichkeit willen – und er setzt auf die Ergreifung und Nutzung der Freiheitchancen durch seine Bürgerinnen und Bürger.“

Horst Dreier, Rechtsphilosoph, Uni Würzburg, FAZ vom 26. August 2021

Diese Katastrophenlage haben Lauterbach, Wieler und viele andere Wissenschaftler seit dem Sommer vorhergesagt. Sie haben Gegenmaßnahmen bis hin zu Impfpflichten eingeklagt. Die Politik aller Parteien war es, die Gefahren kleinzureden und die Mahnungen zu ignorieren. Alle Parteien haben mit irreführendem Eifer die Lockerung der Schutzmaßnahmen betrieben. Sie haben vollmundig die baldige Rückkehr zu einem Leben ohne jede Corona-Einschränkungen versprochen. Statt Ansagen in rechtssicheren Formulierungen, in strafbewehrten Gesetzen und Verordnungen, haben sie aus politischer Überlebensangst ein Testregime etabliert, mit dem sie die ganze Verantwortung für das Pandemiegeschehen den Bürgern selbst, den Betrieben, Schulen und Universitäten übertragen haben.

Das Problem war: Das Coronatest-Regime hat das Infektionsgeschehen zu keinem Zeitpunkt eindämmend beeinflusst. Jenseits der Quarantäneregeln gab es keine rechtlich verbindlichen Regeln, wie mit infizierten Impfverweigerern umzugehen wäre, den Treibern der Pandemie. Es gab auch keine Auskunftspflichten der Bürger gegenüber den Arbeitgebern über ihren Impfstatus, der mit abgesicherten Rechtsfolgen für die betreffenden Arbeitsverhältnisse verbunden gewesen wäre. Zudem haben sich alle Parteien durch einen tiefen Griff in die öffentlichen Kassen mit Ausgleichszahlungen aller Art für Corona-bedingte Einnahmenausfälle von ihrer Pflicht der Steuerung der Pandemie freigekauft.

Die Impfverweigerer haben es geschafft, die gesamte Gesellschaft in Geiselhaft für ihr staatsfeindliches Verhalten zu nehmen

Es ist der Politik bis heute nicht gelungen, Schulen und Universitäten mit einer Technik auszustatten, die das Infektionsrisiko minimieren könnte. Jede Debatte über Impfpflichten für alle, inklusive der Kinder ab fünf Jahren, wurde von allen Parteien mit dem Hinweis auf die angebliche Verletzung der individuellen Freiheitsrechte der Bürger abgewürgt.

In der Systematik ihrer Corona-Politik gibt es keinen Unterschied zwischen der abgewählten Koalition aus Union und SPD und der wahrscheinlich nun folgenden Ampel-Bundesregierung. Mit der Aufhebung der epidemischen Notlage auf Antrag von SPD, Grünen und FDP ab dem 25. November wird das Zuständigkeitsproblem zwischen Bund und Ländern weiter eskaliert. Nicht mehr der Bund auf dem Verordnungswege, sondern die Länder mit den Landtagen und der Bund mit dem Bundestag müssen dann im jeweiligen Zuständigkeitsbereich den Kampf gegen Corona steuern. Was in Bayern gilt, wird in Nordrhein-Westfalen anders, in Mecklenburg-Vorpommern noch ganz anders, und im Bund nur noch in seinen unmittelbaren Zuständigkeiten geregelt.

Vom Brechen der vierten Welle ist die Gesellschaft in der Bundesrepublik weit entfernt. Das Politikversagen aller Parteien schafft der Pandemie Freiräume, sich ungebremst weiter zu entfalten. Die Impfverweigerer triumphieren. Sie haben es geschafft, die gesamte Gesellschaft in Geiselhaft für ihr staatsfeindliches Verhalten zu nehmen: Die Politik lässt sie gewähren.

Das Vertrauen in die Demokratie schwindet

Viele Bürger zweifeln inzwischen an der Sicherheit und Zukunft garantierenden Kraft demokratischer Politik. Das Ignorieren des Sterbens durch die Politik und der durch ihr Nichthandeln chaotisierte Lebensalltag der Bürger verstärkt Ängste und Zweifel an der Funktionskraft demokratischer Prozeduren. Die Bürger müssen schmerzlich zur Kenntnis nehmen, dass die demokratisch gewählten Politiker ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und den Bürgern nicht wahrnehmen.

Das staatsrechtlich Schwierige an dieser Situation ist ihr doppeltes Gesicht aus Rücksichten und Handlungszwängen. Das unbefriedigende Verhalten der Politik ist der Alltag demokratischen Regierens. Im freiheitlichen Rechtsstaat soll eben gerade nicht autoritär durchgegriffen werden. Hier soll in breitem gesellschaftlichem Dialog ein Konsens gefunden werden, mit dem dann auf gesetzlicher Basis fast alle leben können und alle leben müssen. Dieser Suchprozess nach dem richtigen oder mehrheitsfähigen Weg ist oft langwierig, nervend und gibt eben auch Idioten großen Raum. Und er muss damit leben, dass seine Lösungen in der Regel nur die zweitbesten sind. Basta-Politik und freiheitliche Demokratie sind nicht miteinander vereinbar. Manchmal kann der Preis für eine solche Politik hoch sein. Das Sterben von Bürgern wegen politischem Versagen kann indes auch in demokratischen Strukturen verhindert werden; doch dazu braucht es Mut.

Armin Nassehi und Horst Dreier reden zu Recht vom dünnen Eis der Zivilisation. Es gehört zur Idee von Demokratien, dass sie scheitern können. Aber wenn sie scheitern, dann scheitern sie, weil diejenigen, die in ihr die Herrschaft der Gesetze sichern sollen, an dieser Aufgabe scheitern. So können im schlechtesten Fall aus der Mitte von Demokratien Diktaturen entstehen. Die derzeitige Corona-Politik der politischen Elite kann die Demokratie in der Bundesrepublik in eine Existenzkrise treiben.

UDO KNAPP ist Politologe und schreibt für taz FUTURZWEI regelmäßig einen Kommentar.