■ Pampuchs Tagebuch: Die drei großen Nullen, die alles neu machen
Es mag am nahenden Jahrtausendwechsel liegen, das Alte – ob bewährt oder nicht – wird als alt erkannt, als obsolet gar, Neues drängt sich auf, alles scheint möglich. Es ist, als ob das magische Datum mit den drei Nullen ein neues Abenteurertum freisetzte, als wollten viele (denen man das zum Teil gar nicht mehr zugetraut hat) auch ihre persönliche Millenniumszäsur setzen. Beziehungen, Arbeits- und Wohnverhältnisse, Lebensentwürfe stehen plötzlich fröhlich zur Disposition. Ein fast kathartisches „neues Beginnen“ erfasst die Massen. Und es scheint, als gebe es den kollektiven Wunsch, sich endlich sauber von Altlasten zu trennen. Der dicke Kohl mit seinen schwarzen Kassen ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie das Bedürfnis nach einer Art Jahrhundertkehraus täglich wächst. Weg mit den Patriarchen, weg mit den alten Zöpfen, die Karten werden neu gemischt, jawoll, und alles, was uns das letzte Jahrhundert genervt hat, das spülen wir im großen 00 hinunter.
Fast alle, die man trifft, wissen von Veränderungen und neuen Aufbrüchen zu berichten. Die christliche Arithmetik hilft dabei, dies als quasi gottgewollte Zäsur zu sehen. Denn nicht Angst, nein Freude ergreifet uns. Wenn wir schon selbst nichts recht ändern können, der unerbittlich voranschreitende Kalender wird's schon richten. Nichts bleibt, wie es war. Nach 40 Generationen endlich wieder mal was echt Neues, und wir können sagen, wir sind dabei gewesen. Wer wollte da nicht wenigstens ein bisschen mitmischen? Der Millennium-Bug ist nicht nur in den Computern, er hat sich längst auch in unseren Köpfen eingenistet. Und auch dort arbeitet er emsig an den Verwerfungen des Althergebrachten.
Meine Vermieter zum Beispiel haben sich kurzfristig entschlossen, das schöne Schwabinger Häuschen, in dem ich glücklich seit 17 Jahren in einer Hausgemeinschaft lebe, auf ihre alten Tage im neuen Jahrhundert selbst zu beziehen. Eigenbedarf heißt das in der Sprache des bürgerlichen Mietrechts. Sage mir keiner, das Ansinnen habe nicht auf irgendeine Weise mit dem Millennium zu tun. Und es löst natürlich schneeballartig neue Veränderungen aus. So muss ich selbst, obwohl fast schon resistent gegen Y2K, nun auch mein Leben ändern und bin selbst hineingeworfen in den großen Jahrhundertmarkt des „Alles wird anders“. Ich habe das Vergnügen, seit fast zwei Jahrzehnten zum ersten Mal wieder auf Wohnungssuche zu gehen. In dem Geschäft hat sich ja auch einiges geändert. Neugierig erkunde ich derzeit die Internet-Angebote auf dem Immobilienmarkt. Donnerwetter. Sieht alles ziemlich easy aus. Man lädt sich www.sueddeutsche.com auf den Schirm, klickt auf „Mietmarkt“, und schon kann man die feinsten Angebote der letzten Tage, geordnet nach Zimmerzahl, Preisvorstellungen und Quadratmetern, durchforsten und die interessantesten dann auf einen „Merkzettel“ übertragen, wo praktischerweise die Telefonnummern der Makler und Immobilienhaie gleich vermerkt sind.
Ob das alles was nützt, kann ich noch nicht sagen. Früher musste man jedenfalls die Zeitungsausträger mit den druckfrischen Exemplaren nachts am Zeitungsverlag abpassen – was dann auch nichts genutzt hat. Insofern hat die Vergeblichkeit auf jeden Fall schon mal ein ganz anderes Niveau erreicht. Und der Jahrtausendwechsel bringt den Immobilienmarkt erst recht in Bewegung: Beim Mieteranwalt habe ich eine entfernte Bekannte getroffen, die sich 2000 nun endlich persönlich verändern will. Ihr Freund ziehe jetzt zu ihr, sagte sie mir, und er hinterlasse eine hübsche Wohnung in bester Lage. Hab ihr gleich meine E-Mail-Adresse gegeben. Y2K, wir loben dich. Thomas Pampuch
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