Palästinenser aus Haft entlassen: "Wir hassen die Hamas mehr als Israel"
Die Regierung in Jerusalem entlässt 429 palästinensische Gefangene, davon 21 aus dem Gazastreifen. Feierstimmung herrscht dort trotzdem nicht - es bleibt zu gefährlich.
"Abu Fadi, Abu Fadi", ruft eine Gruppe jugendlicher Palästinenser, die mit Fatah-Fahnen auf dem Dach eines fahrenden Busses sitzen. Abu Fadi, das ist der Kampfname von Mohammad Dahlan, ehemals Chef des palästinensischen Nachrichtendienstes und Erzfeind der Hamas. Früher galt Dahlan als der starke Mann im Gazastreifen, heute sitzt der Hoffnungsträger der Fatah-Jugend weit weg im sicheren Westjordanland.
Mit streckenweise beängstigender Geschwindigkeit bewegt sich die Autokolonne mitsamt dem Bus der Fatah-Aktivisten vom Erez-Kontrollpunkt aus in südliche Richtung nach Khan Younis. Dort ist Salim Saqqa zu Hause, einer der am Montag vorzeitig aus israelischer Haft entlassenen 429 Palästinenser, von denen 21 im Gazastreifen leben.
Immer wieder muss die Kolonne stoppen, mal versperrt ein mit riesigen Blumenkohlköpfen beladener Eselswagen den Weg, mal wird Salim von Passanten erkannt, die ihn aus dem Auto ziehen, umarmen und küssen. Viereinhalb Jahre hat der heute 34jährige hinter Gittern verbracht. Mit der Amnestie, die die Israel beschloss, um Palästinenserpräsident Mahmud Abbas den Rücken zu stärken, bleiben ihn sieben weitere Jahre seiner Haftstrafe erlassen. Jemand gibt Schüsse in die Luft ab, wird aber schnell von einem Freund gestoppt. Fatah-Leute dürfen seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen keine Waffen mehr tragen.
Auf der Hauptstraße in der Stadt Gaza ist kein einziger Polizist postiert. Als die Kolonne an einem Büro der Hamas vorbeifährt, sehen fünf bärtige Männer, die offenbar zu den Islamisten gehören, dem Spektakel still zu. Fast alle anderen Menschen signalisieren Sympathie, zeigen mit den Fingern ein V für "Victory" oder winken. Jemand wirft Salim eine Schachtel Zigaretten zu. Ein wertvolles Willkommensgeschenk, denn Zigaretten sind Mangelware und kosten aufgrund des schon sechs Monate andauernden Embargos doppelt soviel wie früher.
Während in Ramallah auf dem Platz der Muqataa, dem Amtssitz des Präsidenten, Reden für die Heimkehrer gehalten werden, fahren die entlassenen Palästinenser aus dem Gazastreifen gleich nach Hause. Eine demonstrative Sympathiebekundung mit der Fatah kann hier fatale Folgen haben. Erst vor kurzem starben zehn Menschen, weil sie an einer Gedenkveranstaltung für den Fatah-Gründer und ehemaligen PLO-Chef Jassir Arafat teilnahmen.
"Wir können unsere Meinung nicht mehr frei äußern", sagt Nagma Saqqa, Salims Schwester. Nicht das Embargo und die Entbehrungen seien das Schlimmste, sondern "die Angst vor der Hamas". Nagma deutet auf Taissir, ihren 26jährigen Cousin, der im Rollstuhl sitzt, seit Hamas-Kämpfer im Juni mehrere Kugeln auf ihn abgaben. Taissir ist Mitglieder des einst gefürchteten Präventiven Nachrichtendienstes von Dahlan. Als Salim das Haus seiner Eltern erreicht, küsst er das mit Metallschienen stillgelegte Bein seines Cousins. "Wir hassen die Hamas mehr als Israel", sagt Taissir verbittert, trotzdem sind sich die beiden jungen Männer einig, dass genug Blut geflossen ist.
"Wir Palästinenser dürfen uns nicht gegenseitig töten", sagt Salim, der gerade zum ersten Mal seine vierjährige Tochter in den Armen gehalten hat. "Sie wird sich langsam an mich gewöhnen", sagt Salim.
Auch im Gefängnis sei der Konflikt zwischen der Hamas und der Fatah "deutlich zu spüren", berichtet er. Die Aktivisten der beiden Parteien würden in verschiedene Blöcke untergebracht, um Berührungspunkte zu vermeiden. Für Salim bleibt der Hauptfeind trotzdem Israel. Er musste sich vor seiner Entlassung schriftlich zur Gewaltfreiheit verpflichten, doch das sei für ihn nur "ein formaler Akt", der nötig gewesen sei, um freizukommen. Der Kampf werde weitergehen, bis die "israelische Aggression" zuende und die Grenzen offen seien. Paradoxalerweise ist es die Hamas, die mit ihrem Waffenverbot für Fatah-Kämpfer Salim am Widerstand hindern wird.
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