Pakistan: Gewalt im Nordwesten wächst
Mit massiver Militärpräsenz beantwortet Musharraf die Gewalt in den Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan. Tausende Menschen sind auf der Flucht.
DEHLI taz Tausende Einwohner von Pakistans Provinz Nordwasiristan haben am Montag aus Angst vor der steigenden Gewalt die Region verlassen. Wie leer gefegt seien die Märkte von Miranschah, der größten Stadt, berichten Anwohner. Sogar beim staatlichen Radio herrscht Funkstille - die Angestellten haben die Beine ebenfalls in die Hand genommen. Zuvor hatten die lokalen Stammesvertreter der Provinz ein im vergangenen Jahr mit der Militärregierung von Pervez Musharraf ausgehandeltes Abkommen aufgekündigt. Das massive Militäraufgebot in der Region hatte ihrer Meinung nach das Abkommen bereits verletzt.
Mehr als 80 Menschen waren am Wochenende bei Anschlägen in Pakistans unruhigem Grenzgebiet zu Afghanistan ums Leben gekommen. Der schwerste Zwischenfall ereignete sich am Samstag nördlich von Miranschah. Dort fuhr ein mit Sprengstoff beladener Transporter gegen ein Fahrzeug der paramilitärischen "Scouts", das einen Militärkonvoi begleitete. Vierundzwanzig Soldaten kamen ums Leben. Am Sonntag geriet ein Militärkonvoi in der Region von Swat in einen Hinterhalt, als die Transporter auf Minen fuhren und unter Feuer kamen. Bei dem anschließenden Gefecht sollen mindestens zehn Soldaten getötet worden sein.
Die Angriffe waren nicht nur eine Reaktion auf die Stürmung der Roten Moschee in Islamabad. Sie zielten offensichtlich auch auf die massiven Truppenverstärkungen, die der Staat seit Beginn der Moscheebelagerung am 3.Juli in den nordwestlichen Grenzprovinzen eingeleitet hat. Er wusste, dass die Reaktionen dort besonders heftig ausfallen würden, kamen doch nicht nur viele Koranschülerinnen aus dieser Region, sondern vermutlich auch viele Mitglieder des harten Kerns der Moscheeverteidiger. Offenbar hat Musharraf nun beschlossen, der immer stärkeren Islamisierung der Grenzprovinzen zu Afghanistan nicht weiter tatenlos zuzuschauen.
Das Stammesgebiet Nordwasiristan, Schauplatz des tödlichen Anschlags vom Samstag, war der Armee nach einem Abkommen vom September 2006 eigentlich verschlossen. Sie hatte sich zurückgezogen, nachdem Stammesführer und lokale Taliban versprochen hatten, dass sie Al-Qaida-Verbände und afghanische Taliban kontrollierten. Glaubt man der unlängst veröffentlichten "Bedrohungsanalyse" der amerikanischen Geheimdienste, ist das Wiedererstarken al-Qaidas wesentlich diesem Abkommen zu verdanken.
Präsident Musharraf dürfte bewusst gewesen sein, dass der Truppenaufmarsch einer Kündigung des Abkommens gleichkommt. Seine Ansprache nach der Stürmung der Roten Moschee war bemerkenswert deutlich: "Wir werden Extremismus und Terrorismus ausrotten, wo immer sie existieren, in jeder Ecke unseres Landes." Früher waren solchen Drohungen wenig Taten gefolgt. Aber Beobachter in Pakistan sind der Meinung, dass die sechsmonatige Herausforderung der Staatsgewalt mitten im Zentrum der Macht möglicherweise einen Wendepunkt darstellt. Die Militärs hätten eingesehen, so der französische Pakistanexperte Frédéric Grare, dass die bisherige Politik des Staats, die Befürworter religiöser Gewalt zu tolerieren oder für eigene Zwecke zu manipulieren, diese nur gestärkt hat.
Die Reaktionen in der Bevölkerung dürften Musharraf bestärken. Zwar kam es nach dem Fall der Moschee in mehreren Städten des Landes zu Protesten. Beim Freitagsgebet wurde das Vorgehen der Armee scharf kritisiert, aus vielen Madrassen kamen Trauerbotschaften, und die islamische Oppositionskoalition MMA kündigte weitere Proteste an. Doch der weitaus größte Teil des Landes blieb ruhig.
Auch die Medien kritisieren Musharraf vor allem, weil er so lange gewartet habe, bis er dem Treiben in der Moschee schließlich ein Ende setzte. Die Zeitung Dawn schrieb am Sonntag: "Jene, die die Scharia mit dem Gewehr durchsetzen wollen, verdienen es, dass ihnen die ganze Macht des Staats entgegentritt. Ihre Gewalt und die Aufmerksamkeit, die sie bekommen, mögen den Eindruck erwecken, dass sie dabei sind, in Pakistan die Macht zu übernehmen. In Wirklichkeit sind sie eine kleine Minderheit. Die Scharia kann nicht mit Gewalt eingeführt werden. Das pakistanische Volk wird jedem derartigen Versuch widerstehen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!