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„...PRÜVEN, OB DER MAN JEMALS WANSIENIG WAHR...“

■ „Maison de Sante - Ehemalige Kur- und Irrenanstalt“, eine Ausstellung des Kunstamts Schöneberg in Containern auf der Belziger Straße

„Bitte die Bewohner nicht füttern!“ hängt ein Transparent quer über der Einfahrt in dem verwilderten Hof, der früher mal der Anstaltsgarten der „Maison de Sante“ war. Die „Idylle“, wo efeuüberwachsene privatbewohnte Restbestände der „Maison“ friedlich inmitten von Trödlermüll, großflächigen Supermarkttafeln, Parkplätzen und letzten unbelästigten Bäumen verfallen, ist vom geschichtswütigen Bezirk eingeholt worden. Grund für die Aufregung der Bewohner sind zwei Container des Kunstamts in der Belziger Straße, direkt vor dem Objekt der Begierde aufgestellt. „Geschichte vor Ort“, versucht nicht nur den Stuck säuberlich zu rekonstruieren, sondern auch die feuchten Stellen der Weltkriegsnotwohnungen ins Bewußtsein zu rufen und die Grundmauern, überwuchert von den Bauplänen der speerschen Heerstraße, der Westtangente, des Durchbruchs Belziger Straße, aufzuspüren: Die Wiederentdeckung der „Maison de Sante“ zu einer Reise in die Sozialgeschichte Schönebergs verführt. Die Provinz gewährt Einblick in Provinzen des Denkens von der öffentlich legalisierten Aussperrung abweichenden Verhaltens in der Psychiatrie zum sukzessiven Verschwinden rigoroser Stadtplanung.

Die Entwicklung des Bezirks verläuft genau umgekehrt. Von einem gottverlassenen Kaff, durch das allerdings eine wichtige Verbindung in die Sommerresidenz Potsdam führte, die Potsdamer Straße, wird Schöneberg in den 80er Jahren des 19.Jahrhunderts so schnell nach Berlin wachsen, daß die „Maison“, Inbegriff der Aussperrung, zum integralen Bestandteil des neuen hauptstädtischen Mietshausmeers wird. Wurden im Mittelalter die Irren noch in sogenannten „Tollkisten“ vor den Toren der Stadt aufgestellt, so muß sich jetzt das öffentliche Bewußtsein der Ausgrenzung differenzieren: nach vorne ein repräsentatives Wohnhaus, nach hinten „Beobachtungsstationen“ mit Innenhof und ein langgestreckter, weitläufiger Anstaltsgarten. Das repräsentative Bild läßt sich aufklappen, viele kennen jedoch nur die eine Seite.

NATUR MIT DAMPF

1861 heiratete der Doktor Eduard Levinstein, was immer noch eine der sichersten Investmentplanungen war. Im Brautbett lag der „Gasthof zum Helm“, Hauptstraße14, den er mit Unterstützung der Wirtsfamilie zum „Kur-Etablissement“ umbauen ließ. Die Patienten sind anfangs brunnentrinkende Postkutschenpendler aus Berlin, bald kommen sie von weit her zur Mineralwasser- und Molkenbäderkur: bereits 1864 sind „60 elegante Zimmer“, mit allem „Comfort“ ausgestattet. Neben den Badesälen (damals Luxus), Glaswintergärten (letzter Schrei) gibt es die Möglichkeit, über dem Kuhstall zu schlafen (soll helfen) und in einem „pneumatischen Cabinett“ (kartenspielend) komprimierte Luft einzuatmen. Alles ist darauf angelegt, die „Krankheit“ im besonders familiären Rahmen zu vergessen, man wohnt schließlich im „Haus der Gesundheit“.

Aber nicht nur die Anforderungen der Diätetik, der recht fortschrittlichen Therapie durch Lebensweise und Ernährung, machen aus der „Maison“ zunächst einen großen Salon. „Wer ist denn hier krank“, fragt ein Besucher und spielt auf das wahre Leiden der adeligen und großbürgerlichen Patienten an, den Konservatismus. Das Leiden an der rasanten Umkrempelung der politischen und privaten Verhältnisse wird in den folgenden Jahren zunehmend unterprivilegierte Patienten in die „Maison“ befördern; vorerst verleugnet man die industrielle Revolution, indem man ihre Errungenschaften gebraucht. Die Dampfmaschine, die das „pneumatische Cabinett“ versorgt, ist in einem künstlichen Felsengebirge verborgen. Im Glashaus gibt man sich der Illusion ungetrübter Natur, in der Grotte zivilisierter Archaik hin.

Doch aus den Glashäusern werden Speisesäle, die Kur- wird zur Krankenanstalt. Ab 1871 nimmt Levinstein auch kommunale Patienten aus der städtischen Irrenversorgung auf, für die die Gemeinde gegenüber den Privaten nur ein Siebtel zahlt. Für „zwei besondere, völlig getrennte Anstalten“ mit Vorder und Seiteneingang wird jetzt zusammen inseriert. Die geordnete Klassengesellschaft setzt sich in der Anstalt fort.

Rund um das alte Gasthaus samt Garten, einst inmitten von ländlichen Parzellen und Vergnügungsgartenlokalen gelegen, explodiert die Bebauung: Mietshäuser, Brauerei, Gaswerk und Ringbahn. Im gleichen Maß implodiert die „Maison“: 1885 sind es 400 kommunale und 125 Privatpatienten; 1890 sogar 800 Patienten; neu angebaute „Beobachtungsstationen“ mit Einzelzellen an langen Korridoren nehmen den menschlichen Auswurf der Maschinen, den nicht brauchbaren Bodensatz der Industrialisierung auf. Plötzlich befindet sich die „Maison“ mitten im Stadtzentrum. Eine Bürgerschaft, die sich für 13.000 Mark eine Kaiser-Wilhelm-Statue vom patriotischen Brotlaib abgeschnitten hat, die sie zwei Weltkriege später für Vaterlandskanonen wieder einschmelzen wird, eine solche Bürgerschaft erträgt keine Irren am Gitterfenster gegenüber von Rathaus und Bank. Gleichzeitig labt sich der wilhelminische Bürger an den Ausbruchsversuchen in der Lokalpresse, den kleinen Geschichten der ach so bedauernswerten „Unglücklichen“.

MASSLOSS REIN

Einer dieser „Unglücklichen“ ist Karl A., zwischen 1909 und 1915 Patient der Anstalt. In seinen Briefen und Zeichnungen an die Anstaltsleitung (Prinzhorn-Sammlung) wiederholt sich der Prozeß der Rationalisierung auf absurde Art: Schreiben als Suche nach Identität und Ordnung aus einem chaotisierten Bewußtsein heraus und der dringende Wunsch nach einer sicheren Instanz, die „prüven könnte, ob der Mann, der dieses geschrieben, jemals Wansienig wahr“.

Doch wo die Wertmaßstäbe wanken, werden die Kriterien willkürlich. Ob „gute“ oder „gemeingefährliche“ Irre, zunehmend ersetzt die Wegschließung die Auseinandersetzung mit dem Abweichenden. Fälle widerrechtlicher Internierung, wie der des jungen Arnold von Keuk, der wegen unstandesgemäßer Liebesheirat entmündigt und „nach Schöneberg“ gebracht wurde, waren offenbar übliche Formen bürgerlicher Konfliktlösung.

1914, als die „Maison“ nicht nur zur germanisierten „Heil und Pflegeanstalt“ degeneriert, sondern auch als „Reservelazarett Heilstätte Schöneberg“ Verwundete wieder kriegsdienstflott macht, mehren sich die Fälle der „Kriegshysteriker“, die mit Zittern, Lähmung und Anfällen von der Front zurückkommen und mit neuen Zwangsmaßnahmen (Gipsverband, Elektroschock) diszipliniert werden sollen. Die, die freiwillig in den Krieg zogen, werden jetzt als „von Geburt an geistig reduziert“ diffamiert, ähnlich wie die „Revolutionshysteriker“, die Ausdifferenzierung eines fanatisierten Ordnungssinns läßt keine abweichende Meinung mehr zu. 1933, als die „Maison“ schon vierzehn Jahre geschlossen ist, und die Stadtplanung über das Gebiet hinweggeht, ist der Höhepunkt der „Reinlichkeit und Ordnung“ erreicht. Der mit „Der Aufbau der Schöneberger Verwaltung“ sinnreich überschriebene Artikel im Schöneberg-Friedenauer Lokalanzeiger, indem es um den Durchbruch der Belziger Straße geht, endet mit der Befriedigung, daß die „mitunter recht zweifelhaften Gestalten, die diesen Platz bevölkerten, durch eine neue und saubere Staatsführung auf den Aussterbeetat gesetzt sind“.

Es gibt andere Linien, die diese eine, die sich durchgesetzt hat, durchkreuzen, relativieren, tangieren: die „No-Restraint-(Kein-Zwang)-Bewegung“, die mit ihren psychiatrischen Reformideen Ende des letzten Jahrhunderts zu exclusiv war und den Herausforderungen neuer Krankheitsbilder und massenhaften Therapiebedarfs nicht gewachsen war; oder die gescheiterten Assimilationsversuche des jüdischen Arztes Levinstein, der sich als Stabsarzt und sein Haus als Lazarett zur Verfügung stellt. Dennoch waren Proteste gegen willkürliche Internierungspraxis fast stets mit Antisemitismus durchsetzt.

SAAL DES HERRN

Die beiden Container der Ausstellung folgen „Maison“. Vom vorderen, theoretischen Teil mit Wandtafeln, längeren Quellen und Zeitschriften („Irrenoffensive“ und anderem) gehen immer wieder Durchgänge über bepflanzte Gitterstege in kleine Zimmer im hinteren Teil. Auf den „Salon“ mit Wohnleuchter und raffetückischen Ölbildern der „Maison“ zum Aufklappen folgt ein Raum mit in die Wand eingelassenen weißen Anstaltstüren. Durch Gucklöcher und Klappen blicken sich „Irre“ und Besucher gegenseitig an. Im engen Zwischenraum sind Psychopharmaka, Zwangsjacke und Gurte aufgehängt, hinter dem nächsten Gucki ein ganzes Leben: Bärbel, 46 Jahre, Küchenhilfe im Krankenhaus, nach 28 Jahren gekündigt, der Betriebsrat stimmt zu. In der Ecke ein demolierter alter Rotkreuzkoffer, durch seine Schlitze scheint ein handbeschriebener Zettel eines „Kriegshysterikers“ , zehnmal wiederholt sich eine Zeile „Im Saale des Herrn“.

Zwei Räume weiter verschwindet die „Maison“ als kleine Projektionsfläche, als aufgehängtes Polaroidfoto vor den Großplanungen des 20.Jahrhunderts. Im Trapez umringen sie die großformatigen Schwarzweißraster glücklicherweise nie verwirklichter Planungen: Karstadt-Neubau, faschistisches Verwaltungsgebäude, Autobahnzubringer. Am Boden wächst Gras und Unkraut durch Straßenmakulatur. „Was aber wirklich geschah, war das Ungeplante“ leitet über in die aktuellen Überlegungen um eine künftige architektonische und soziale Nutzung. Privatbesitzer, Landeskonservator, Kunstamt und ein Teil der BewohnerInnen des Geländes streiten sich um die beste Alternative der Erhaltung und Nutzung. Daß das Kunstamt dem Landeskonservator durchaus kritisch gegenübersteht, wird anhand einer Haßaktion mit Dispersionsfarbe auf Antik in einer Vitrine dokumentiert. Pastellgetönte glatte Selbsthilfehistorismen will man nicht, sollte hier doch mal ein Kulturzentrum nebst geplantem Wildwuchs entstehen, so soll „Zeit als Zeit“ (Katharina Kaiser) sichtbar gemacht werden.

Wieviel Zeit man in die Geschichte der „Maison de Sante“ beim Ausstellungsrundgang investiert, bleibt jedem selbst überlassen. Einer schrieb ins Besucherbuch: „Kam gerade vorbei. Mir tun die Füße nicht weh.“ Und ein anderer hat den Slogan verkündet: „Das müßte das Deutsche Historische Museum sein - überall solche Ausstellungen an geschichtsträchtigen Orten.“

Dorothee Hackenberg

Die Ausstellung „Maison de Sante“ befindet sich bis 6.8. in zwei Containern auf der Belziger Straße, im ehemaligen „Anstaltsgarten“, Di-So 11-19 Uhr, Eintritt frei. Der äußerst lesenswerte Katalog mit Beiträgen von Insa Eschebach, Gerlinde Böpple, Anne Ego u.a. kostet 15 Mark. Am 13.7. Wird im „Haus am Kleistpark“ die Begleitausstellung“ Zwei Gesichter einer Anstalt“, Zeichnungen und Texte von zwei “ Maison„-Patienten aus der Prinzhorn-Sammlung Heidelberg eröffnet, zur Ausstellung finden Rahmenveranstaltungen statt.

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