Out of Oggersheim

Oggersheim, der Stadtteil Ludwigshafens, in dem der mächtigste Historiker des Landes residiert, wurde um das Jahr 764 nach Christus gegründet. 1938 fand die Eingemeindung statt. 1972 bezogen Helmut und Hannelore ihren Bungalow. 1994 erhält die Stadtmitte ihr Kopfsteinpflaster zurück. Eine Ausgrabung  ■ Von Thorsten Schmitz

Früher oder später mußten wir auf Herrn Hauns, Reinhard Hauns, treffen. Wir sind ihm früh begegnet, und das war gut so.

Denn was sind die ersten Schritte in einem Stadtteil mit 24.000 Seelen? In Ludwigshafen- Oggersheim, wo die Straßennamen erfunden worden sein müssen, weil alles so gleich aussieht. Wo 24 Stunden am Tag das Leben pulsiert wie auf der Zugspitze um Mitternacht.

Man kann in die Marbacher Straße Nummer 11 gehen und warten, bis die Haushälterin von Helmut und Hannelore Kohl nach dem Großreinemachen im silberfarbenen Mercedes 190 abrauscht. Mit 50 Sachen durch die Tempo- 30-Zone. Man kann in der Bäckerei „Gromes“ in Erfahrung bringen, daß die First Lady dort Torten kauft. Zumeist Käsekuchen.

Man kann aber auch Herrn Hauns begegnen. Einem Menschen, der Oggersheim in den Genen hat. 75 Jahre lang ist er seinem Geburtsort treu geblieben, und es spricht nichts dafür, daß er in diesem Leben noch einen Ortswechsel vollzieht. Hauns, der ideelle Gesamt-Oggersheimer und Leiter des Heimatkundlichen Arbeitskreises, hat Generationen von Jungpfälzern das Abc großer und kleiner Geschichtsschreibung eingetrichtert. Als Volksschullehrer. Und wer sein bescheidenes Büdchen betritt, das auf einem Rest Stadtmauer errichtet wurde, dem weht die Stadtteilgeschichte als taubengrauer Popeline-Blouson entgegen.

Im Flur hängen Kupferstiche längst abgerissener Denkmäler, die einer Tankstelle weichen mußten. Acht Regalfächer im Wohnzimmer sind vollgestopft mit Broschüren, Aquarellen und Büchern über ein Thema: Oggersheim, das 764 oder 767 oder 769 erstmals als Agridesheim erwähnt und 1938 von Ludwigshafen eingemeindet wurde.

Herr Hauns hat akribisch notiert, wen der Kanzler wann zu Besuch hatte und welcher Promi überhaupt je dem Örtchen, das ein eigenes Autobahnkreuz besitzt, die Ehre erwies. Die Liste mit dem Titel „Sie waren in Oggersheim“ hält er in Fotokopie stets parat. „Uwe Barschel, Politiker (CDU), 23.8.87“, „Rudolf Heß, Stellv. Adolf Hitlers, März 35 in Ogg.“, „Michail Gorbatschow, UdSSR- Präsident mit Frau Raissa, 10.11.90“, „Napoleon Bonaparte, Kaiser von Frankreich, 2.9.1806“, „Mutter Teresa, Nobelpreisträgerin, 13.7.86“.

Und als wär's ein Geschenk, das er höflicherweise nicht wegschmeißt, verstaubt hoch oben auf dem Wohnzimmerschrank ein Postkarten-Konterfei des prominentesten Oggersheimers. „Für Reinhard Hauns, 31.12.1989“. Helmut und Hannelore Kohl schätzen, so sagt man, das Wirken des Herrn Hauns. Die Hand haben sie ihm noch nie gegeben.

Oggersheim, Orangeriestraße. Vor seinem Geburtshaus, in dem heute noch eine Tante wohnt, rückt Herr Hauns seine Brille zurecht. Trocken wie ein Buchhalter erinnert er an den Schnabelbrunnen in der Schnabelbrunnengasse. Heute ein wilder Parkplatz.

Im Schloßpark bleibt er vor einem Gedenkstein stehen, mit dem die SPD an den ersten Arbeitskampf in der Pfalz erinnert. 1871 hatten Spinnereiarbeiter für kürzere Arbeitszeiten gestreikt und die Samtfabrik in Oggersheim lahmgelegt.

Seine Zuneigung zu Oggersheim hat Herr Hauns unter Kontrolle. Der Ort sei „schön“, ist ihm mit viel Mühe zu entlocken. Und Hauns dämpft gleich ab: „Man kann ihn lieben oder auch wegwerfen. Aber es ist ein geschichtlicher Ort.“

Seine Liebste ist die Wallfahrtskirche, ein monumentaler Bau aus dem römischen Hochbarock. Doch bleibt es nicht aus, daß wir auf ein zentrales Ärgernis zusteuern. Es ist der Hans-Warsch-Platz, wo das Herz von Oggersheim schlägt.

Fünf Straßen führen auf den Platz zu, und alle sind aufgerissen. In der Mitte wird gerade die Wendestelle der Straßenbahn repariert. Fußgänger bleiben hinter Absperrgittern gefangen, Autos schleichen orientierungslos im Kreis und finden nicht heraus.

Umstandslos hinein nach Oggersheim kommt sowieso nur einer. Nachbar Kohl. Mit dem Hubschrauber pflegt er hinter der Autobahnmeisterei zu landen und düst dann im Panzerkreuzer durch die schiefen Gassen, die Ampeln auf Kanzlerschaltung.

Vom Lärm und Staub der Baustelle am Hans-Warsch-Platz liest Kohl höchstens in der Rheinpfalz. Der Restoggersheimer hingegen fühlt sich von den Bauarbeitern terrorisiert. Unser Dorf soll schöner werden – von wegen. Für Herrn Hauns ist das Facelifting von Downtown Oggersheim eine „große Schweinerei“. Sogar Ludwigshafens sozialdemokratischer Oberbürgermeister, Dr. Wolfgang Schulte, bemühte sich zu einer Diskussionsveranstaltung mit den genervten Bürgern.

Herr Hauns ist da nicht hingegangen. Zu tief sitzt sein Groll darüber, daß in Oggersheim die McDonald's-Ära Einzug hält und gesichtslose Sparkassen das Stadtbild trüben. An das historisierende Kopfsteinpflaster am Hans- Warsch-Platz wird er sich nie gewöhnen können.

Oggersheim ist seit 1972 Kohls Schlafstädtchen. Es ist mit seiner Karriere gewachsen. Hier ist Kohl nichts Besonderes. „Der Bevölkerung ist er von Kind an vertraut. Irgendwann war er Abgeordneter, dann Ministerpräsident und schließlich Kanzler“, erklärt Willi Breunig, Stadtarchivar von Ludwigshafen. Stolz auf Kohl? Dann schon eher darauf, daß Friedrich Schiller im Jahre 1782 ganze 46 Tage im Gasthaus „Zum Viehof“ weilte. Weshalb nun eine Apotheke, eine Straße, ein Platz, ein Altenheim, ein Museum und eine Gedenkstätte den Namen des Dichters tragen. Oder darauf, daß der Kuhhirte Hans Warsch Oggersheim im Dreißigjährigen Krieg tapfer verteidigt hat. „Stolz auf Kohl, nein, das glaube ich nicht.“

Tag der deutschen Einheit in Oggersheim. Es könnte auch der Volkstrauertag sein. Bei tiefhängenden Regenwolken wird ein Platz umbenannt, und 50 Oggersheimer frieren im Halbkreis, weil sie sich dieses Erlebnis nicht nehmen lassen wollen. Platz der Einheit? Aber nein, Oberbürgermeister Schulte hält eine Rede auf Friedrich Haag, dessen Name ab sofort den „Alten Kerweplatz“ ziert. Haag war 24 Jahre lang Vorsitzender der „Siedlergemeinschaft BASF-Notwende“, bis in die achtziger Jahre hinein. Notwende ist ein Ortsteil des Ortsteils Oggersheim. Dort errichteten 1934 Chemiearbeiter mit BASF-Unterstützung und in Eigenregie ihr kleines Reihenhäuschenreich im großen Dritten Reich.

Stadtchef Schulte, 47, Chef einer der pleitesten Kommunen Deutschlands, verkündet den Männern und Frauen, er sei „ganz bewußt gekommen“, denn „ein ,Wir‘ brauchen wir jetzt und Menschen, die bereit sind, den Spaten in die Hand zu nehmen“. Er selbst schaufelt schon. Die Stadt hat Zukunft, sagt Schulte. Ist offen, ißt gerne, trinkt gerne, feiert gerne. Tolerant obendrein, sagt er und nippt am Weißwein. Und irgendwann, hofft er, läßt sich auch mit dem Faktor Kohl für neue Investoren werben, jetzt, wo dem größten Arbeitgeber der Region, dem BASF-Werk, alle Märkte wegbrechen.

Bis dato liegt der Kontakt auf Eis. Denn Helmut Kohl hat es immer wieder geschafft, die Staatschefs dieser Welt am Ludwigshafener Rathaus vorbeizulotsen. Und das findet Schulte gar nicht gut. Die Sicherheit zwischen der Ludwigshafener Innenstadt und Oggersheim könne nicht garantiert werden, läßt Kohls Entourage wissen. Tatsächlich aber rächt sich der Kanzler mit diesem Affront dafür, daß Ludwigshafen von seiner politischen Haßfarbe regiert wird. Die Roten herrschen hier in fast ungebrochener Tradition seit 1898. Und die Jelzins, Clintons und Majors lädt Kohl lieber nach Deidesheim in den „Deidesheimer Hof“ zum Saumagen-Verputzen. Deidesheims Bürgermeister ist ein Christdemokrat.

Und wenn sich die Weltlenker ins Goldene Buch Ludwigshafens eintragen, dann muß der Bürgermeister die Schwarte dem Kanzler entgegentragen – aus dem Rathaus in den Vorort Oggersheim. So geschehen im Juli beim Clinton-Besuch.

Ein völlig störungsfreies Verhältnis pflegen dagegen die Anwohner der Kohlschen Residenz zu ihrem Nachbarn. „Wenn Frau Kohl hier vorbeiläuft“, sagt eine Frau und kehrt das Herbstlaub in ihrem Vorgarten zu transportablen Häufchen, „grüßt die immer ganz nett.“ Selbst an die Gaffer, die nach dem Weg zum Bundeskanzler fragen, hat man sich gewöhnt. Und Touristenbusse müssen ja sowieso draußen bleiben aus der Marbacher Straße. „Der Kohl ist einer von uns“, sagt die Frau noch und schiebt der Neugierde einen Riegel vor.

Schräg gegenüber macht Adolf Blum seinen Ziergarten winterfest. Die unmittelbare Nachbarschaft zum Bundeskanzler sieht er praktisch. „Seit der hier wohnt, ist nie wieder eingebrochen worden.“ Einmal ist er ihm sogar begegnet, im Pfälzer Wald. „Ich habe ,Guten Tag‘ gesagt, er hat ,Guten Tag‘ gesagt.“

Herr Blum ist am gleichen Tag wie Nachbar Kohl zur Welt gekommen, am 3. April. Warum nicht zusammen feiern, dachte sich eines Tages seine Ehefrau. Und schickte eine Einladung ins Kanzleramt nach Bonn – nicht vis-à-vis in die Marbacher Straße. Doch Kohl ließ sich lieber unter seinesgleichen feiern, mit Wolfgang Schäuble etwa. „Wir waren 40 Leute an meinem Geburtstag und haben bei jedem Klingeln gedacht, das ist er. Das wäre ein Gag gewesen.“ Einmal aber durfte Herr Blum doch dort sitzen, wo der Aussitzer sonst sitzt: Kohls Chauffeur Eckhard Seeber – Ehemann von Hannelores Haushälterin – brachte ihn in der Kanzlerlimousine von einem Ball nach Hause. „Wenn der wüßte.“

Rahimaj Ramadan besitzt eine beachtliche Kollektion von CDU- Kugelschreibern. „Die schreiben gut.“ Auf die Stifte schwört er – so wie auf Kohl. Der Kosovo-Albaner jätet drei Häuser vom Anwesen der Kohls entfernt den Garten eines BASF-Managers. Er tut das, weil er zuwenig Rente kriegt. Zu seinem Namen bringt der Vater von sieben Kindern immer den gleichen Spruch – „Ramadan, schlechter Partisan“ – und grinst breit. Ein verzücktes Lächeln zaubert der Gedanke an Herrn und Frau Kohl auf sein Gesicht. „Ein guter lieber Kerl. Ist erste Klasse. Ich liebe das, wie Kohl mit seiner Frau Hand in Hand läuft.“ Könnte Herr Ramadan wählen ... die Frage erübrigt sich. Am Sonntag geht er wie immer ein bißchen spazieren. Daß Kohl Kanzler bleibt, hört er im Radio. Für einen Fernseher hat er kein Geld.

„In unser'm scheene Oggersheim geht's rund, do is was los. Mir brauche garnet weit zu geh'n, des is jo ganz famos.“ (Aus: Das Oggersheimer Lied)