Ottomotor und Ernstfall

■ »Dromomania« — eine Woche der verkehrten Bewegung

Samstag, 17. November, 10 Uhr im öffentlichen Nahverkehr, Linie 1. Im Waggon sitzen: ein Journalist auf der Suche nach »Dromomania — Kult und Ritual der täglichen Bewegung«, ein Berber und ein Schwerbehinderter. Der Berber forsch: »Ich muß hier raus«, zündet sich einen Stummel an, »ich muß hier raus«. Der Schwerstbehinderte: »Ich bin schwerstbehindert. Rauchen ist hier verboten. Das kann teuer werden.« Er zückt seinen Schwerstbehindertenausweis: »Das wird teuer.«

Am Morgen des 14. November tritt die SPD in die heiße Phase des Wahlkampfs. Der Regierende und sein Senator demonstrieren den Zusammenhang von Gewaltmonopol und Beweglichkeit. Mit Helikopter, Panzern und dem mobilen Kommando (SEK), die Knochen im Zweifelsfall zu schonen, markiert der 14. November den derzeitigen Interferenzpunkt von Staatsgewalt und Justiz im Knochenbruch. Mit der Befreiung des zentralen Verkehrskanals Mainzer Straße von Störgeräuschen erfüllt die Regierung ihre Pflicht. Die politische Staatsgewalt ist »polis, Polizei, das heißt Verwaltung der Verkehrswege« (Paul Virilio, Dromologe); sie vermengt gesellschaftliche Ordnung mit der Kontrolle der Zirkulation und den Aufstand mit der Verkehrsstockung.

Vor unserer Zeitrechnung. Auf der A9, Kilometer 81,1 (DDR). Ein Wildschweinkadaver verwest am Straßenrand. »Das sich schnell bewegende Tier wird meist vom noch schnelleren Fahrzeug erfaßt und zur Seite geschleudert. Vom Autobahnpersonal unbemerkt befinden sich die Tiere nach 2 bis 6 Tagen im Zustand fortgeschrittener Verwesung.« Das Autobahnbiotop — Natur ist, was der Verkehr übrig läßt — wuchert im Naturkundemuseum »Kunst für Touristen« von Gero Gries, z.Z. Mauerstraße 12, Berlin-Mitte.

Donnerstag, 15. November, 14 Uhr. Auf der Leipziger Straße, unweit vom Potsdamer Plaz, steht Frau Hoh mit ihrem Gefährt (2,30m lang, 1,55m hoch, 0,20m breit) im Stau.

Heute öffnet der Verein »Botschaft e.V.« im Haus Leipziger/Ecke Mauerstraße 12 für fünf Tage sein Versuchsfeld zum Thema »Dromomania — Kult und Ritual der täglichen Fortbewegung«. Draußen vor der Tür wird dem kollektiven Feierabendverkehr sein Lärm um individuellen Ohren geschlagen: »Fahrer — Auto — Mikrophone — Mischpult — Verstärker — Lautsprecher — Autofahrer«: simpel und effektiv. Vom Dach kommt die Botschaft über den Stand der Diskussion im Haus, verständlich nur für Augen und Ohren, die Kommunikation nicht als Information mißverstehen. Im Inneren des Hauses ein Versuchsfeld. Keine Ausstellung, kein interdisziplinäres Symposion, kein Markt der Möglichkeiten, so unterstreichen die Veranstalter, die Besetzer im vierten Stock des einstigen WMF- Prunkstücks: von allem Fragmente — und »ein für alle offenes Experiment«.

Es gibt — das ist das auffallendste — kein gemeinsames Projekt, nur seine progressive Erfindung. Doch ist voraussehbar, daß dies für den gesuchten und öffentlichen und »interdisziplinären Streit« kein Hinderungsgrund sein wird. Seifenkünstler Norbert Stück, im Eingangsbereich des labyrinthischen Geschosses (wo sich noch im vergangenen Herbst Betriebskampfgruppen auf ihren Einsatz vorbereiteten), bastelt weiter an seiner Installation: vom alten Eingangsportal herunter der Blick auf jenes imaginäre Land, das einst die Württembergische Metallwaren-Fabrik als Aktenlager der Vergangenheit im Keller ihres Gebäudes hinterließ. Zwei Türen weiter wertet das »Institut für Umwelt und Prognose, Heidelberg« die Umfrageergebnisse von »Mobil mit und ohne Auto« aus. Was beide Projekte (und alle anderen) verbindet, ist allein die Frage des Besuchers... und das Raum-an-Raum in einer sozialen Versuchsanordnung, die von keinen gewachsenen Strukturen geprägt ist. Auf »gewachsene polyzentrische Strukturen« als wünschenswerte Struktur vor ihrer Haustür, Berlin- Mitte, setzt »Botschaft e.V.«. Einig ist man sich darin mit der Stadtplanungsgruppe »Gruppe 9. Dezember«, die für kommenden Mittwoch abend (18 Uhr) ihr öffentliches Arbeitstreffen in die Leipziger Straße verlegte. Doch wird die (Sub)Version der »gewachsenen polyzentrischen Strukturen« nicht nur von ihren Gegnern kommen — von Werner Kumke (Baustadtdirektion Berlin- Mitte), der am Donnerstag (20 Uhr) zum großen Palaver über die »Zukunft Berlin-Mitte« geladen ist — »Davids Project«, das sich tief im Labyrinth der Mauerstraße 12 eingenistet hat: »Wir haben ein Konzept entwickelt, bei dem sich Livingroom- Container auf selbststeuernden Wagen bewegen. Die Koordinaten von Heimat und Gemeinschaft werden sich verschieben, verschiedene geographische Punkte werden identisch und der Faktor für Bewegung gleich null.« Und auch, was der dromophile Werner Klotz, der mit seinen schlafenden Weinbergschnecken durch die Welt jettet, mit der sozialbotanischen Wachstumsmetaphorik anzufangen weiß, bleibt eine offene Frage. In einem aber ist man sich wohl einig: in der Gegnerschaft zum Geschwindigkeitswahn eines Verkehrssenators, der am morgigen Dienstag mit seiner Vorlage zum zentralen Innenstadtbereich faktisch auch den Abriß des teilbesetzten Hauses beschließen wird — zugunsten der sechsspurigen Durchgangsstraße zum Potsdamer Platz. Fritz von Klinggräff

»Dromomania — Kult und Ritual der täglichen Fortbewegung«. Ausstellung, Arbeit, Geräusche in und um die »Botschaft« Leipziger Straße 112, Mauerstraße 12 von heute bis zum 24.11. rund um die Uhr. Einzelne Daten: siehe Programmteil.