Otto Mühls Entschuldigungsschreiben: Das Dilemma der sexuellen Entgrenzung
Otto Mühl, Wiener Aktionist, Kommunegründer und Kinderschänder hat sich bei der Eröffnung einer Ausstellung zu seinem 85. Geburtstag bei den Opfern seiner sexuellen Übergriffe entschuldigt.
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Otto Mühl, der Wiener Aktionist. Otto Mühl, der Kommunegründer und Kinderschänder. Otto Mühl also hat sich entschuldigt. Bei der Eröffnung einer Ausstellung im Wiener Leopoldmuseum aus Anlass seines 85. Geburtstages ließ er einen Brief verlesen, in dem er sich bei den Opfern seiner sexuellen Übergriffe entschuldigt und zugibt, dass er sich "in einigen Sachen grundsätzlich geirrt" hat und in vielen Bereichen gescheitert ist. Was ist es denn nun, was da gescheitert ist?
Eindeutig ist: das mit dem Tabubruch, das mit dem Überschreiten der Grenzen jener Ordnung, die damals "Spießertum" hieß, hat nicht geklappt. Was die RAF im Politischen, das ist Otto Mühl im Sexuellen: der Punkt, an dem die Sache mit der Befreiung in ihr Gegenteil kippt. Deshalb ist das, was in der burgenländischen Kommune Friedrichshof geschehen ist, nicht nur die private Geschichte der Kommunarden - für die Otto Mühl sieben Jahre im Gefängnis saß. Es ist eine Geschichte, die uns alle betrifft. Denn am Friedrichshof ist die sexuelle Revolution gescheitert.
Die intendierte Befreiung von den Zwängen einer kleinbürgerlichen, patriarchalen Moral verkehrte sich in den Aufstieg einer allmächtigen Figur: eines despotischen, vergewaltigenden Urvaters, der alle Frauen (und Kinder) des Stammes sexuell ausbeutete. "Es sind die fundamentalistischen Kritiker", schrieb Slavoj Zizek in ganz anderem Zusammenhang, "welche den Weg pflastern für neue totalitäre Führer, die Freuds obszönem Urvater haargenau gleichen." Jene Figuren, die eben das Genießen der Anderen verhindern, weil sie das ganze Genießen alleine auf sich ziehen. Statt zur Befreiung hat dies zu einer Entmündigung geführt, die alle Kommunarden zu Kindern dieses Urvaters regredieren ließ.
ist freie Publizistin und lebt in Wien.
Wenn der Kurator einer Otto-Mühl-Ausstellung im Wiener Leopoldmuseum nun meint, es sei an der Zeit, Leben und Werk zu trennen und nur die Bilder zu betrachten, so verkennt er, dass ebendiese Konstellation beim Betrachter als Schauder wirkt. Es ist eine negative Faszination, ausgelöst durch den Kontext, in dem die Werke entstanden.
Diese Geschichte einer sexuellen Entgrenzung, einer dionysischen, rauschhaften, zügellosen Sexualität war eine kollektive Erfahrung der 70er Jahre. Das muss nicht heißen, dass sie jeder Einzelne wirklich gemacht hat. Dafür gab es Figuren wie Mühl, die öffentlich, gewissermaßen stellvertretend den Exzess gelebt haben. Genau deshalb ist dies auch nicht die private Geschichte des Herrn Mühl - weder der Exzess noch dessen Scheitern.
Was aber bedeutet das für uns heute? Wir können weder hinter die sexuelle Revolution noch hinter deren Scheitern, weder hinter den dionysischen Sex noch hinter dessen Pervertierung zum Status quo ante zurück. Wir wissen um die Gefahren einer völligen Entgrenzung, sind aber nicht mehr bereit, einer restriktiven Sexualmoral zu folgen. Wir sitzen vielmehr mitten in dem Dilemma, das die sexuelle Entgrenzung eröffnet hat: in der "Unmöglichkeit, das Dionysische mit einer kontinuierlichen Lebensweise in Einklang zu bringen", wie Charles Taylor jüngst schrieb.
So ist etwa die Schwierigkeit, das Sinnliche im Rahmen einer anhaltenden Beziehung zu halten, keine persönliche Problematik, sondern Folge der kollektiven Rauscherfahrung, die, uneinholbar, dennoch zur Messlatte wird. Jenseits der persönlichen Lösungsversuche gibt es jedoch einen gesellschaftlichen Umgang mit dem Dilemma, der lautet: Privat lebt man permissiv, frei, zügellos (man versucht es zumindest), im Arbeitsbereich jedoch akzeptiert man die Regeln. Das ist eine Art praktische Widerlegung Max Webers. Es ist eben doch möglich zu trennen - während man die Regeln der Lebensführung lockert, werden sie im ökonomischen Bereich beibehalten.
Selektive Ekstase und selektive Disziplinierung lautet die Parole der Postsexualrevolution. Nachts im Swingerclub, tagsüber im Büro. Kein leichter Spagat, den dieser nüchterne Hedonismus zwischen Dionysischem und Apollinischem versucht. Eines bedeutet er in jedem Fall: ständigen Schlafmangel.
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