Ostberliner Stasi-Zentrale gestürmt

■ Während der runde Tisch den Bericht über die Stasi debattiert, verwüsten 2.000 Demonstranten die ehemalige Stasi-Zentrale / Erst nach Stunden fruchten dramatische Appelle übers Fernsehen und vor Ort: Die Demonstranten ziehen ab / DDR-Regierung: „Demokratie in höchster Gefahr

Ost-Berlin (dpa/ap/taz) - Rund 2.000 Demonstranten stürmten gestern am frühen Abend die Zentrale des Amts für Nationale Sicherheit in Ost-Berlin, warfen die Möbel aus den Fenstern und vermauerten Eingänge. Die Lage geriet für Volkspolizei und Neues Forum, das als Veranstalter der Demonstration immer wieder zu Gewaltlosigkeit und Besonnenheit aufforderte, völlig außer Kontrolle. In einem dramatischen, mehrfach über das DDR-Fernsehen ausgestrahlten Appell rief die Regierung zu Besonnenheit auf und erklärte: „Die Demokratie ist in höchster Gefahr.“ Die Teilnehmer des runden Tischs, die unter anderem den Bericht der DDR -Regierung zur Auflösung des Überwachungsapparats der alten Staats- und Parteiführung debattierten, brachen die Sitzung ab. Vertreter der Opposition und Ministerpräsident Modrow eilten zum Sitz der Stasi-Zentrale. Modrow appellierte über Lautsprecher an die Demonstranten. Vertreter des Neuen Forums postierten sich schließlich an den Eingängen und sperrten unter den ständigen Parolen „Keine Gewalt“ das Gebäude ab. Sie ließen nur noch Menschen aus dem Haus.

Über das Ausmaß der Schäden lag zunächst noch kein Überblick vor, ernsthafte Bedrohungen von Stasi-Mitarbeitern scheint es jedoch nicht gegeben zu haben. Menschen schmierten Parolen wie „Stasi - Gestapo - KGB - Securitate Blutsauger alle“ an die Wände. Das Gebäude war bereits vorher von einem Bürgerkomitee friedlich zur Inspizierung und Kontrolle übernommen worden.

Am Nachmittag hatten am runden Tisch nach der Vorlage des Berichts über die Stasi Sprecher der Opposition die sachliche Information der Regierung begrüßt. Allerdings seien immer noch viele Fragen offengeblieben, vor allem nach Verflechtungen zwischen SED und Stasi. Nach Informationen der Bürgerkomitees, die die Auflösung des Stasi überwachen, sei im Widerspruch zum Bericht die jetzt gestürmte Stasi -Zentrale in Ost-Berlin immer noch voll funktionsfähig gewesen. Der vom überraschend erschienenen Ministerpräsident Fortsetzung auf Seite 2

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Andersdenkende. Die Weisungen und Befehle zu der Personenüberwachung seien von der Regierung Hans Modrows aufgehoben worden. Der Stasi sei in den vergangenen Jahren personell verdoppelt worden. Zuletzt hätten für sie 85.000 hauptamtliche Mitarbeiter und 109.000 „inoffizielle Personen“ als Spitzel gearbeitet. Von den 85.000 Mitarbeitern seien rund 21.000 unmittelbar operativ, 1.052 in der Telefon- und über 2.100 in der Postüberwachung tätig gewesen. Ferner hätten 5.000 Personen in der Überwachung und Ermittlung gearbeitet. Im vergangenen Jahr standen für den Stasi 3,6 Milliarden Mark zur Verfügung. Für die Auflösung

würden voraussichtlich 500 Millionen Mark aufgewandt werden.

30.000 ehemalige Stasi-Mitarbeiter sind seit Auflösung des Amtes bereits entlassen worden, sagte Sauer. Bei weiteren 22.500 Personen werde die Eingliederung in die Volkswirtschaft, das Gesundheitswesen, in Armee und Volkspolizei vorbereitet. 20.000 von den verbleibenden 32.500 Personen würden in nächster Zeit entlassen. 12.500 Mitarbeiter sollen bis zur endgültigen Übergabe der Stasi -Objekte an den Staat weiterbeschäftigt werden.

Bis zum vergangenen Wochenende seien alle Waffenbestände aus den ehemaligen Kreis- und Bezirksämtern übernommen und die Waffenkammern der zentralen Objekte geräumt worden, sagte Sauer. Die Übergabe der Waffen soll bis zum 25.Januar abgeschlossen werden.

Sauer nannte Zahlen: U.a. hatten die Stasi-Leute 124.593 Pistolen und Revolver, 76.592 Maschinenpistolen, Maschinengewehre sowie Panzer- und Flugabwehrwaffen. Die elektronischen Daten seien in Archiven gelagert und durch die Staatsanwaltschaft versiegelt worden. Das Rechenzentrum habe seine Arbeit eingestellt.

Innenminister Lothar Ahrendt (SED-PDS) bezeichnete es auf drängende Fragen der Opposition als „Fehler“, daß Teile des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes offenbar bereits als neuer „Verfassungsschutz“ aufgetreten seien. Ministerpräsident Hans Modrow (SED-PDS) hatte nach anhaltenden Protesten der Opposition am vergangenen Freitag in einer Regierungserklärung auf die Bildung eines Verfassungsschutzes bis zur Wahl am

6.Mai verzichtet. Trotzdem konnten Oppositionsvertreter Briefe und andere Dokumente mit dem Aufdruck „Verfassungsschutz“ vorlegen. Einen Antrag des Neuen Forums, den ganzen Bericht wegen unklarer Aussagen zu diesem Bereich zurückzuweisen, lehnte die Mehrheit der 16 Gruppen am Tisch ab.

Am kommenden Montag sollen die früheren für Sicherheit zuständigen SED-Sekretäre Egon Krenz und Wolfgang Herger über die Verflechtungen zwischen ihrer Partei und dem Sicherheitsapparat am runden Tisch berichten. Vertreter der Opposition verlangten, der Staatssicherheitsdienst solle zu einer verfassungsfeindlichen Organisation erklärt werden. Gegen die SED müsse dann ein Verfahren wegen verfassungsfeindlicher Aktivitäten eingeleitet werden.