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Ost-West-Stereotypen Diese undankbaren Nazi-Ossis

Wenn Ruth über „Ossis“ nachdenkt, kommt sie sich vor wie ein uninformierter und unsensibler Wessi-Boomer. Doch dann trifft sie Aron und gerät in Bautzen in den CSD.

Zwei typische Ossis? Foto: Sebastian Willnow/picture alliance/dpa

taz FUTURZWEI | Bautzen ist überraschend schön. Ich weiß nicht, was ich genau erwartet hatte. Vielleicht mehr Platte, lauter graue leerstehende Gebäude, Glatzköpfe in Springerstiefeln, die die Straßen rauf und runter patrouillieren? Die Straßen sind fast leer, die Altbauten zum Großteil saniert, die Innenstadt fast schon zu idyllisch.

„Hier fließt also unser Soli hin“, denke ich unwillkürlich. „Was beschweren die sich denn eigentlich immer so?“

Ich spreche das natürlich nicht aus! Stattdessen fällt mir auf, dass ich noch nie Soli bezahlt habe, weil ich ja in Berlin arbeite – und dass ich innerlich wie der klassische Wessi-Boomer klinge. Obwohl es 2024 ist und ich hier bin, um ein Podium über Meinungsfreiheit zu moderieren.

Kolumne STIMME MEINER GENERATION

Ruth Fuentes und Aron Boks schreiben die neue taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.

Fuentes, 29, wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und war bis Januar 2023 taz Panter Volontärin.

Boks, 27, wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.

Eine Gruppe Jugendlicher braust – soweit man damit brausen kann – auf ihren Simsons an mir vorbei. Ich erwische mich schon wieder dabei, wie ich denke: „Echte Ossis!“ Dabei weht vom Balkon gegenüber eine Fahne der Bundesrepublik, und die DDR existiert seit über 30 Jahren nicht mehr – länger, als ich und diese Simson-Fahrer auf der Welt sind.

Warum denke ich eigentlich in diesen stereotypen Ost-West-Kategorien, frage ich mich. Schließlich fährt die Landjugend bei uns „drüben“ auch Mofa, oder? Und was soll das eigentlich sein mit diesem „drüben“ – sind wir nicht ein Land? Bin ich vielleicht doch nur eine arrogante Wessi, die am Freitagabend mal nach Bautzen fährt, um sich zur Unterhaltung „Ossis“ anzugucken und zu schauen, wie die wohl so zur Meinungsfreiheit stehen?

Was soll das heutzutage überhaupt sein: „Ossis“ und „Wessis“? Wird das genetisch von Generation zu Generation übertragen? Oder geht es hier eigentlich nur um regionale Unterschiede?

Ein Deutschland – alle frei?

Das erste Mal, dass ich richtig über den sogenannten Osten nachdachte, war, als ich in meine ersten Berliner Wohnung in Lichtenberg zog – ein Stadtteil im Osten. Okay, so krass war es jetzt nicht. Ich hatte schon davor im badischen Geschichtsunterricht – ja, Geschichte! – gelernt, dass es mal die DDR gegeben hatte und eine Mauer, die uns trennte und jetzt endlich weg war. Und wir nun ein Deutschland seien und alle frei.

Aber dann zog ich nach Lichtenberg und auf einmal schien alles nicht mehr so „wiedervereinigt“, wie wir es in der Oberstufe gesagt bekommen hatten. Plötzlich erfuhr ich, dass es „Besserwessis“ gibt, dass es „BRD“ heißt und nicht „Deutschland“, „Wende“ und nicht „Wiedervereinigung“ – und wurde trotzdem zu Datschen-Festen eingeladen.

Von meiner wirklich netten Nachbarin zum Beispiel, deren Vater – wie sich herausstellte – ein wichtiger Stasi-Mitarbeiter gewesen war. Mein Versuch einer „kritischen Auseinandersetzung“ endete mit ihren Worten: „Wir hatten es auch nicht einfach.“

Der Nachbar in der Wohnung direkt darunter hatte zu DDR-Zeiten mit Hilfe eines Ausreiseantrags „rübergemacht“. Falls die beiden mal miteinander sprachen, stritten sie irgendwann über irgendetwas Belangloses. Aufgearbeitet wurde nichts. Egal, wo ich hin kam – in der Kneipe, im Supermarkt, beim Nachbargrillen – immer wieder kam das eine Thema auf: die Mauer, die DDR, die Wende, die Unzufriedenheit. Ich hörte dann hauptsächlich zu, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, wirklich gar nicht Bescheid zu wissen, geschweige denn mitreden zu können.

Die Mauer im Kopf

Auf einmal erschien das Ganze gar nicht mehr so einfach: Diktatur, friedliche Revolution, Freiheit. Die DDR – ein Unrechtsstaat wie bei „Das Leben der anderen“ (von einem Wessi-Regisseur übrigens!), dessen Bevölkerung nun endlich zur freiheitlich-demokratischen Bundesrepublik dazu gehören darf. Hier im Osten sah das kaum jemand so. Stattdessen erfahre ich: selbst die Leute in meiner Generation verdienen im Osten weniger, erben weniger, identifizieren sich weiterhin als „Ossis“.

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Im Westen werde die Mauer im Kopf immer kleiner, je jünger die Menschen sind, lese ich beim Soziologen Steffen Mau, der gerade sein Buch „Ungleich vereint“ herausgebracht hat. Für die Westdeutschen meiner Generation, so Mau, spielten Ost und West kaum noch eine Rolle.

Im Osten sehe das anders aus: Bei den jüngsten Kohorten sogar noch mehr als bei den Älteren. In der Gruppe der jungen Ostdeutschen sagen 65 Prozent, es gäbe Unterschiede. In der entsprechenden West-Kohorte sehen das nur 32 Prozent so. Ost-West-Konflikte nehmen 61 Prozent der Befragten wahr, im Westen sind es nur noch 16 Prozent, schreibt Mau.

Ich muss an meinen ersten Ost-West-Konflikt denken. Den hatte ich mit meinem Mitkolumnisten Aron aus Sachsen-Anhalt. Damals kannten wir uns noch kaum, waren Teil einer wild zusammen gewürfelten Gruppe von jungen Leuten, die für die taz über die Bundestagswahlen 2021 schreiben sollten. Irgendwann kamen wir auf das Thema Osten zu sprechen.

„Was weißt du schon?!“

„Sorry, Aron, aber wenn jemand in der SED war damals, dann trägt er mit Verantwortung für das was in dieser Diktatur passiert ist“, sagte ich – getreu meiner westlichen Schulbildung.

„Was weißt du schon, du hast ja überhaupt keinen Bezug zum Osten“, konterte dieser sichtlich beleidigt. Was mich irritierte, weil ich das Ganze klar als eine geschichts-ethische Frage ansah und – da hatte er tatsächlich Recht – ansonsten als Wessi keinen emotionalen Bezug zu alledem hatte. Er schon, denn er hat Eltern und Großeltern, die in der DDR gelebt und ein diktatorisches Regime sowie einen radikalen Systemwandel miterlebt haben.

Wir stritten noch etwas hin und her. Aron warf mir vor, die Sache zu schwarz-weiß zu sehen. Ich warf ihm vor, zu verklärend zu sein. Uns fiel gar nicht so richtig auf, dass aus dem Rest der Gruppe – alles Wessis – niemand etwas anzumerken hatte. Bis dann schließlich jemand meinte, ob wir denn jetzt nicht endlich essen gehen könnten. Es gäbe Penne in der Kantine.

CSD in Bautzen

Aron und ich sind seitdem befreundet. Ich treffe ihn auch heute hier in Bautzen wieder und wir geraten in den CSD, von dem wir noch nicht wissen, dass er bald der wahrscheinlich meistbesprochene CSD des Jahres sein wird.

700 Vorzeige-Neonazis (die meisten so alt wie wir oder jünger) stehen plötzlich mitten in der sächsischen Kleinstadt – bekannt für gelben Senf und „gelbes Elend“ (das Gefängnis) – bedrohen uns und grölen Hassparolen. Und immer wieder: „Ost-Ost-Ostdeutschland!“ Auf der anderen Seite wir und 1000 weitere Leute mit Regenbogen-Flaggen. Dazwischen die Polizei in Vollmontur, die Hundestaffel einsatzbereit.

Plötzlich ist das Klischee wieder voll präsent: Diese frustrierten, undankbaren Nazi-Ossis, denke ich. Während ich mich umschaue: auch hier hauptsächlich junge Menschen aus der Region. Aber die demonstrieren für die Liebe, für die persönliche Freiheit, für eine pluralistische Gesellschaft und gegen den Faschismus.

Sie prägt ein anderes Aufwachsen, eine andere Familiengeschichte als mich, aber im Kern stehen wir hier an diesem Tag alle – ja, tatsächlich – vereint für dasselbe ein.

„Stimme meiner Generation“ – die Gen-Z-Kolumne des Magazins taz FUTURZWEI, geschrieben von Ruth Lang Fuentes und Aron Boks, erscheint in loser Folge auf tazfuturzwei.de.