: Ost-Berlin: über 100 Festnahmen
■ Hausdurchsuchungen und Festnahmen nach Demo / DDR kündigt großangelegte „Untersuchung“ an
Ost-Berlin (taz) – Bis zu 120 Menschen sind nach Angaben aus Kirchenkreisen und Kreisen unabhängiger DDR-Gruppen im Zusammenhang mit der alljährlichen „Kampfdemonstration“ in Ost-Berlin zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht festgenommen worden. Am Montag mittag waren lediglich 13 von 60 namentlich Bekannten wieder freigelassen worden.
Die meisten der Festgenommenen, darunter der ostberliner Liedermacher Stefan Krawzczyk waren bereits am frühen Sonntagmorgen vor der Haustür abgefangen und in die Haftanstalt Rummelsburg gebracht worden. Stefan Krawczyk gehörte bis zum Montagnachmittag nicht zu den Freigelassenen. Seine Wohnung soll während seiner Abwesenheit gestern durchsucht worden sein. Angehörige und Freunde rechnen damit, daß für die Mehrheit der Abgeführten heute ein Haftbefehl ausgestellt werden wird. Auf Anfragen sei ihnen angedeutet worden, daß es eine Überstellung an den Staatsanwaltschaft geben werde. Bei den Vernehmungen sei vor allen Dingen danach gefragt worden, wer die Teilnahme der unabhängigen Gruppen an der Kundgebung organisiert habe.
Am Montagmittag wurde die Wohnungen von Vera Wollenberger, und Herbert Mißlitz durchsucht. Beide sind unter anderem in der „Kirche von unten“ aktiv. Schon seit Samstag waren mindestens vier Mitglieder der Initiative „Frieden und Menschenrechte“ faktisch unter Hausarrest gestellt worden.
Fotografen und Kamerateams westlicher Fernsehsender durften während der Kundgebung am Sonntag keine Aufnahmen machen. Den etwa 30 bei der Demonstration festgenommen und auf einen Polizei-LKW verladenen Personen hatte man als Grund lediglich angegeben, sie seien bei der Demonstration „unerwünscht“.
Die Ost-Berliner Zeitungen und die DDR-Medien meldeten gestern nichts über die Festnahmen. Die DDR hat die Protestaktionen als „geschmacklos“ bezeichnet und eine „groß angelegte Untersuchung“ der Vorfälle angekündigt. Das geht aus einem Gespräch zwischen dem Staatssekretariat für Kirchenfragen und einer Abordnung der Evangelischen Kirche am Montag in Ost-Berlin hervor, über das Kirchenvertreter berichteten. SED-Politiker haben bei dem kurzfristig angesetzten Treffen nach Angaben kirchlicher Kreise weiter betont, daß sich die Aktionen der Ordnungskräfte, bei der am Sonntag rund 100 Personen festgenommen worden waren, „nicht gegen die Kirche“ gerichtet hätten.
Die „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ hatte gleich am Sonntag spontan ein Schreiben an Erich Honecker verfaßt. Die Verantwortlichen sollten sich selbstkritisch fragen, heißt es in dem Brief, „ob die Festnahmen dazu beitragen, das Vermächtnis von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu erfüllen“. Die Grünen im Bundestag und die Alternative Liste Berlin verurteilten das Vorgehen der Ost-Berliner Polizei und forderten die sofortige Freilassung der Festgenommenen. Die Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, Dorothee Wilms (CDU), sieht gleich das Klima der innerdeutschen Beziehungen gefährdet. Der ehemalige Ständige Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Klaus Bölling (SPD), warnte dagegen davor, „von hier aus immer gleich die SED-Führung vor ein Tribunal zu stellen“.
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