piwik no script img

Osman Engin Die CoronachronikenDas Coronagerücht

Foto: privat

Osman Engin ist Satiriker in Bremen. Er liest seine Geschichten im Radio bei Cosmo unter dem Titel „Alltag im Osmanischen Reich“. Sein Longseller ist der Krimi „Tote essen keinen Döner“ (dtv).

Es ist zum Verrücktwerden mit diesen ständigen Lockdowns! Erst recht mit diesen ganzen Quarantänes – oder heißt es Quarantänis? Quarantänisse? Quarantänen? Kurantinos? Kuratoren? Egal! Auf jeden Fall ist es total nervig – nicht nur wegen der Schreibweise. Meine kleine Tochter Hatice und ihre gesamte Schulklasse befindet sich zurzeit in so einem Ding, was übersetzt heißt, dass 30 Kinder zwei Wochen lang statt ihrer Lehrer ihre Eltern in den Wahnsinn treiben dürfen. Damit aber nicht genug!

Bei uns in der Fabrik wurden die Kollegen von Halle 1 auch nach Hause zum Faulenzen geschickt. Die von Halle 2 auch, auch die von Halle 3, von Halle 5, von Halle 6, von Halle 7 – nur meine arme Halle 4 muss weiterhin schuften wie verrückt. Eine Ungerechtigkeit, die nicht nur bis zum Himmel schreit, sondern das ganze Universum bekommt einen Hörschaden.

Es reicht schon ein kleines Gerücht, dass ein Kollege während der Arbeit ein Mal geniest hätte und schon können es sich 135 kräftige Kerle zu Hause vor dem Fernseher gemütlich machen.

Ich habe in Halle 4 dutzende Male hintereinander geniest – mein Rekord liegt bei 25 – aber kein Mensch bekam die Erlaubnis, zu Hause rumzugammeln – nicht mal ich!

Aber wie sagt man so schön: Selbst nach der dunkelsten Nacht wird es wieder hell! Als ich heute Morgen in Halle 4 ankomme, macht eine Supernachricht die Runde: Ein Kollege soll Covid-19 haben! Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Aber der Feigling versteckt sich hartnäckig!

„Herr Meister, wir stecken uns noch alle an. Lassen Sie uns sofort nach Hause gehen“, wende ich mich im Namen der gesamten Belegschaft an unseren Meister.

„Das ist doch bloß ein Gerücht“, winkt er ab.

„Dieser Kollege hat keine Symptome und dazu noch weniger Verantwortungsgefühl. Aber wenn er uns ansteckt, krepieren wir hier alle reihenweise.“

„Osman, ich kann doch nicht wegen eines einzigen Gerüchtes 135 Leute nach Hause schicken.“

„Und wie wollen Sie dann den Tod von diesen 135 unschuldigen Kollegen mit Ihrem Gewissen vereinbaren?“, drücke ich leicht auf die Tränendrüse.

„An einem Gerücht ist noch keiner gestorben“, ruft er, ganz der Kapitalist.

„An Corona schon! Allein in Deutschland bisher über 70.000 Tote“, lasse ich nicht locker.

„Gut, gut, dann finde du heraus, wer der infizierte Kollege ist.“

„Ich? Warum ich?“, stammele ich überrascht.

„Du kriegst auch einen Tag frei, wenn du es rausbekommst.“

Mist! Dieser freier Tag geht doch wieder flöten, wenn es rauskommt, dass ich dieses Gerücht selber in die Welt gesetzt habe!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen