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Osman Engin Alles getürktDemokratie-Witze und Ekrem İmamoğlu

Die Türken reden sehr gerne und sehr viel! Sehr, sehr viel sogar – aber Zuhören gehört nicht zu ihren Stärken.

Und wenn in Cafés alle lebenswichtigen Themen wie Fußball, Fernsehen und Frauen ausgeschöpft sind, dann reden sie noch ein bisschen über die anderen beiden Dauer­themen: über das lange Demokratie-Abenteuer in der Türkei und den hoffnungslosen Kampf des Landes in Sachen EU-Beitritt.

Und erzählen immer wieder den gleichen Witz, um zu zeigen, wie die Demokratie überall in der Welt funktioniert:

Eines Tages kommt Ali nach Hause und sagt zu seinem Vater:

„Papa, Papa, wir behandeln zurzeit im Unterricht die verschiedenen politischen Staatsformen. Und ich muss morgen vor der Klasse erzählen, was eine Demokratie ist. Kannst du mir bitte sagen, was das ist, damit ich nicht wieder durchfalle?“

Der Vater antwortet darauf:

„Natürlich, mein Sohn. Aber vorher musst du erst mal einige Begriffe lernen. Zum Beispiel, was der Kapitalismus, die Regierung, das Volk und die Arbeiterklasse ist. Also, schau mal, ich habe eine Fabrik, ich bringe das Geld nach Hause, ich bin der Kapitalist.

Deine Mutter entscheidet, wie das Geld ausgegeben wird, sie ist die Regierung. Wir beide arbeiten für dich, du bist das Volk. Die Ayşe, die bei uns den Haushalt erledigt und uns bedient und dadurch ihren Lebensunterhalt verdient, sie ist die Arbeiterklasse.

Foto: privat

Osman Engin

ist Satiriker in Bremen. Sein Longseller ist der Krimi „Tote essen keinen Döner“ (dtv). Osman Engin steht für Lesungen zur Verfügung.

Und dein kleiner Bruder Veli, der noch in den Windeln liegt, er ist unsere Zukunft! Lern du erst mal heute Abend diese Begriffe auswendig und morgen früh erzähle ich dir, wie die Demokratie funktioniert.“

Als Ali Nachts in seinem Zimmer versucht, diese Wörter auswendig zu lernen, hört er von nebenan, wie sein kleiner Bruder Veli ständig weint, weil er in die Windeln geschissen hat. Er läuft sofort zu seiner Mutter, aber sie schläft schnarchend tief und fest. Er will seinen Vater wecken, aber der ist gar nicht da.

Als er ziemlich besorgt an Ayşes Zimmer vorbeigeht, hört er Geräusche und sieht seinen Vater mit der Haushilfe im Bett rumtollen. Daraufhin kehrt er wieder in sein Zimmer zurück und legt sich hin.

Am nächsten Tag beim Frühstück sagt der Vater zu ihm:

„Ali, komm her, mein Sohn, ich erkläre dir jetzt wie die Demokratie funktioniert.“

Der kleine Junge winkt ab und sagt:

Die Türken erzählen immer den gleichen Witz, wie die Demokratie funktioniert

„Vater, das brauchst du nicht mehr. Ich habe heute Nacht mit eigenen Augen gesehen, wie die Demokratie funktioniert. Nämlich so: Während der Kapitalist die wehrlose Arbeiterklasse flachlegt, schläft die Regierung seelenruhig, das Volk macht sich die ganze Zeit Sorgen und die Zukunft liegt in der Scheiße!“

Nach diesem Witz diskutierten dann alle Anwesenden in den Cafés wieder über die drei F.s, die all die Jahre für sie am wichtigsten waren: Fußball, Fernsehen, Frauen!

Zum ersten Mal –seit der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu –scheinen die Menschen endlich verstanden zu haben, was Demokratie NICHT ist!

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