Ortstermin mit Stasispitzel Gratzik: Ein Verräter bleibt sich treu
Warum haben sich Menschen entschieden, für die Stasi zu spionieren? Das wollte ein Abend in Berlin klären, doch er geriet zu einem Lehrstück über Eitelkeit.
„Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“ Diesen Satz von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben aus dem Jahr 1843 hat Paul Gratzik oft von seiner Mutter gehört. Ihm selbst ist er nie über die Lippen gekommen, obwohl der mittlerweile 76 Jahre alte Schriftsteller von 1962 bis 1980 als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit Berichte über Schriftstellertreffen und Freunde und Förderer wie Heiner Müller verfasst hat. Der Arbeiterdichter, Gigolo und Stasispitzel enttarnte sich Anfang der 80er Jahre selbst und wurde daraufhin von der Stasi überwacht.
Nicht einen freien Platz gab es, als der vielfach ausgezeichnete Dokumentarfilm über Gratzik, „Vaterlandsverräter“, der im vergangenen Jahr auf der Berlinale lief und im Herbst in den Kinos, am Montagabend im Kino Babylon in Berlin-Mitte gezeigt wurde. Der Grund: Dem Film folgte eine Diskussion unter der Fragestellung: „Verdammt in alle Ewigkeit?“
Auf dem Podium saßen die Regisseurin Annekatrin Hendel, Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, der DDR-Oppositionelle Wolfgang Templin und Paul Gratzik selbst. „Wir wollen verstehen, warum Menschen sich entschieden haben, für die Stasi zu arbeiten“, eröffnete der Geschäftsführer der Robert-Havemann-Gesellschaft die Diskussion. Dass ein IM öffentlich über sein Handeln spricht, hat absoluten Seltenheitswert und hätte ein kleiner Meilenstein im Umgang mit Stasimitarbeitern sein können.
Hätte. Denn Gratzik ließ sich nicht auf eine Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit ein. Der Autor, der allein auf einem entlegenen Hof in der Uckermark lebt, schien sich in erster Linie über das Interesse an seiner Person zu freuen. „Hätte ich bloß nicht bei der Stasi in den Sack gehauen“, sagt er in dem Film. „Wir hätten den Kapitalisten viel eher ans Bein pinkeln müssen.“
Ablenkungsmanöver
Dazu stand er auch am Montagabend im „Babylon“, das wenige Meter neben der Volksbühne liegt, wo Gratziks Stücke früher aufgeführt wurden. „Diese Stasischeiße nach 20 Jahren wieder zu kauen, ist ein Manöver, um von gegenwärtigen Problemen abzulenken“, sagte er und schwadronierte über Handyortung und Volkseigentum. Was er damals geschrieben habe, sei nichts im Vergleich zur „totalen Überwachung“ heute. Die Empörung des Publikums äußerste sich durch Sprachlosigkeit und vereinzeltes Lachen.
Dabei hätte gerade Gratzik das Zeug zu einer interessanten Auseinandersetzung. Er galt unter den Schriftstellern der DDR als Außenseiter, er arbeitete Teilzeit in der Industrie. Er traute sich an Themen wie die Jugendwerkhöfe heran, in denen unbotmäßige Jugendliche mit teils brutalen Methoden zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ umerzogen werden sollten.
Der Leiter der Stasiunterlagenbehörde, Roland Jahn, ertrug Gratziks Äußerungen mit feinem Lächeln. „Der Film spricht für sich“, sagte er. Er nannte es „ein Symbol“, mit einem Stasispitzel auf einem Podium zu sitzen, und forderte, dass die Menschen bereit sein müssten, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Das Publikum applaudierte und Gratzik fühlte sich wieder nicht angesprochen.
Leider griff der Moderator nicht die Diskussion um die etwa 50 ehemaligen Mitarbeiter des MfS auf, die in der Stasiunterlagenbehörde arbeiten und die Jahn im Gegensatz zu Joachim Gauck, dem ersten Beauftragten für die Stasiunterlagen, gerne loswerden würde. Stattdessen zitierte er zum Schluss den Schriftsteller Jurek Becker: „Je länger die DDR tot ist, desto schöner wird sie.“ Auch das perlte an Gratzik ab. „Es ist ein Menschheitsversuch gewesen“, sagte er. „Das ist wichtiger, als mit der Stasi rumzukäsen.“ Einige wenige spendeten ihm Applaus.
Gratzik war in seiner Verbohrtheit auch von entlarvender Ehrlichkeit. „Ich bin sehr auf mich bezogen“, sagte er. „Ich lasse nur einen gelten: Das bin ich selber.“ Viele Besucher unterhielten sich nach der Veranstaltung noch vor dem Kino. Wörter wie „Diktatur“, „Kommunismus“ und „Starrsinn“ flogen durch die Luft. Der an der Kinofassade angekündigte nächste Film passte vortrefflich zu dem Auftritt des ehemaligen IM: „John Irving und wie er die Welt sah.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland