Ortstermin in Afghanistan: Der Sorgendistrikt
US-Militär Strategiewechsel seit Obama: mehr Soldaten, mehr Geld nach Afghanistan. Ein Ortstermin.
FARAH taz | Wenn die vier Humvees, die schwer gepanzerten Fahrzeuge der US-Patrouille, um die Ecke rollen, sind die Jungs aus dem Dorf schon da. Sie tragen fast alle das typische knielange Hemd über der gleichfarbigen weiten Hose - meist in braun. Mädchen stehen wenn, dann einzeln am Rand. Die Jungen dagegen scharen sich schnell zusammen, und einer ist stets dabei, der selbstbewusst für die anderen spricht. Abdul Barai ist 14 und sagt, die Leute nähmen es den Amerikanern schon übel, was im Distrikt Bala Baluk, 50 Kilometer nördlich von hier, passiert ist. "Sie haben eine Menge unschuldiger Menschen getötet. Die Amerikaner sollten dorthin gehen, wo ihre Feinde wirklich sind und sie dort bombardieren."
So gibt es in leisem Englisch der Übersetzer Atta wieder, der die Patrouille des US-amerikanischen Provincial Reconstruction Teams (PRT) aus Farah im tiefen Südwesten Afghanistans in das Dorf Rigi begleitet. Am 4. Mai bombardierten B-1B "Lancer"-Flugzeuge Häuser in zwei kleinen Dörfern in Bala Baluk. Der Abschlussbericht der US-Truppen vom 18. Juni nennt "ungefähr" 26 tote Zivilisten, erkennt aber an, dass die afghanische Menschenrechtskommission ihre Gründe haben könnte, wenn sie auf 86 tote Zivilisten kommt. Ein Untersuchungsbericht der afghanischen Regierung führt mehr als 140 tote Bewohner des Dorfs Gerani an, die meisten davon Kinder. Die US-Militärführung hat zugegeben, dass die beiden Bombenangriffe, die abends im Dunkeln stattfanden, falsch waren.
Bala Baluk wurde zu einem Schlüsselbegriff dafür, warum die USA in Afghanistan nicht so weitermachen können wie bisher. Bereits Ende März hatte US-Präsident Barack Obama angekündigt, dass er dieses Jahr sowohl 21.000 zusätzliche Soldaten schicken als auch die Mittel für den zivilen und wirtschaftlichen Aufbau des Landes deutlich aufstocken werde - nach dem Motto "mehr von allem". Wenige Tage danach ließ US-Verteidigungsminister Robert Gates den US-Kommandeur austauschen. Stanley McChrystal soll nun das "neue Denken" in Afghanistan umsetzen. Zum Dienstantritt erklärte er: "Die wichtigste Aufgabe ist der Schutz des afghanischen Volkes, damit dieses die Regierung Afghanistans als legitim und leistungsfähig anerkennt."
Es ist für die sechs europäischen Journalisten, die auf einer von der Nato organisierten Tour auch in dem kleinen US-amerikanischen Militärlager Farah nicht weit von der iranischen Grenze zu Gast sind, schwer zu erkennen, ob den schönen Worten vom Strategiewechsel bereits Wirkungen gefolgt sind. Die Nato und das US-Außenministerium geben sich viel Mühe, die Journalisten mit Afghanen zusammenzubringen. Doch sind die meisten der freundlichen Gesprächspartner ja Profiteure der amerikanischen Entwicklungshilfe.
Auch der junge Abdul Barai, der am Straßenrand von Rigi so besonnen auftritt, lobt die Amerikaner, die Elektrizität ins Dorf gebracht hätten. Und genau darum hat die Patrouille die Journalisten mit nach Rigi genommen: Sie sollen erfahren, dass 500 Dorfbewohner den Dieselgenerator selbst am Laufen halten, den die staatliche US-Entwicklungshilfeorganisation USAID ihnen dorthin gestellt hat.
Der neue Gouverneur von Farah, Ruhul Amin, regiert faktisch mit und durch die Amerikaner vom PRT Farah. Die US-Soldaten fliegen ihn mit dem Helikopter in den hintersten Winkel der Provinz, damit er dort eine von den USA finanzierte Brücke einweihen kann. "Ich telefoniere jeden Tag mindestens ein- oder zweimal mit dem Kommandeur", sagt Amin. "Er ist wie ein Familienmitglied für mich. Mit meinem Sohn spreche ich nur einmal die Woche."
Der Gouverneur hat es sich nicht nehmen lassen, die Gäste aus Europa mitsamt dem PRT-Kommandeur zum Essen einzuladen. Er ist ein freundlicher Mann, der bei jeder Frage irritiert durch seine gelb getönten Brillengläser blinzelt. Bei Granatapfelsaft, Coca-Cola und Kebab erklärt er, dass zwar "einige Leute meinen, dass die afghanischen und die US-Streitkräfte in Bala Baluk etwas falsch gemacht haben. Aber die meisten Leute denken, die Taliban waren schuld. Denn die schießen aus den Häusern der normalen Leute."
Amin will sich keinesfalls festlegen, wie viele Tote es im Dorf Gerani gegeben hat - obwohl er selbst dort war, um Geld an die Familien der Opfer zu verteilen. Er wurde Anfang Mai vom afghanischen Präsidenten Hamid Karsai eingesetzt, weiß aber offensichtlich auch, wie viel er den Amerikanern verdankt.
Bala Baluk ist ein Sorgendistrikt. Hier wird ein großer Teil des Opiums angebaut, das der Provinz den Titel des zweitgrößten Opiumproduzenten Afghanistans - nach dem östlich angrenzenden Helmand - eingetragen hat. Ausgerechnet den Teil Bala Baluks, in den die einzige geteerte Straße aus der Provinzhauptstadt Farah in die einzige andere geteerte Straße, die "Ring Road" genannte Schlagader Afghanistans, mündet, haben die Taliban unter Kontrolle.
"Ich habe keinen Zugang zu den Leuten dort, sie sind ein eigener Stamm", sagt Amin freimütig. Kommandeur der Taliban in Bala Baluk sei Mullah Sultan, der aus Guantánamo freigelassen wurde. "Er ist zurück. Er war einer der stärksten Talibanführer bis 2001, jetzt ist er wahrscheinlich der stärkste." Schon deshalb habe es keinen Sinn, Versöhnung mit ihm zu suchen. Es müssten schlicht mehr Streitkräfte nach Bala Baluk. "Spätestens einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen im August muss dort Frieden herrschen. Ohne Frieden wird es dort keine Wahlen geben." Wie viele Truppen es bräuchte, um Bala Baluk unter Kontrolle zu bekommen, weiß er nicht. Amin hat seine gepflegten nackten Füße aus den Schlappen gezogen und übereinandergelegt. Er wirkt plötzlich etwas einsam in seinem dicken Brokatsessel mit den goldenen Troddeln.
"Donor Babys" nennt Trevor Hublin Menschen, die von Hilfe und Spenden abhängig sind. Hublin ist Entwicklungshelfer des USAID und damit einer von drei Zivilisten unter 100 Soldaten beim PRT Farah. Natürlich ist ihm wie allen Amerikanern in Afghanistan die Gefahr bewusst, dass "mehr von allem" bedeutet, Afghanistan wirtschaftlich abhängig zu machen. Ziel ist ein friedliches Afghanistan, das sich selbst ernähren und schützen kann: Doch erst einmal werden die US-Amerikaner alles allein machen, wozu die afghanische Regierung, die Nato-Partner und die anderen Länder, die im ISAF-Mandat vereint sind, sich nicht imstande sehen. Tausende mehr US-Soldaten sollen die afghanische Armee und Polizei ausbilden, sie sollen die Taliban nicht nur zurückdrängen, sondern schlagen. Mehr "Füße am Boden" sollen außerdem die Zahl der wie in Bala Baluk oft so fatalen Luftangriffe reduzieren helfen.
Über 400 zivile Helfer sollen aber auch bis Ende des Jahres die aufgestockten Entwicklungsgelder im ganzen Land verteilen. "Es darf nicht mehr passieren, dass in einem Tal Projekt für Projekt gestartet wird, und ein Tal weiter passiert gar nichts", erklärt eine Afghanistanexpertin im Brüsseler Nato-Hauptquartier.
Wie das in Farah aussehen wird, beschreibt Presseoffizier Rich Sessoms trocken: "Wir gehen in die Dörfer und sagen, wenn ihr die Taliban rauswerft, geben wir euch Straßen, Kanäle, Schulen." Von 3,7 Millionen Dollar im Jahr 2008 ist der Projektetat des PRT für 2009 auf 7,5 Millionen Dollar mehr als verdoppelt worden.
In Bala Baluk wird bald gekämpft werden - der Rest der Provinz wird gekauft. Möglicherweise klingt das Rezept simpel. In Farah, bei Wüstenwind und 43 Grad Celsius im Schatten, wirkt die Aufgabe sehr, sehr schwer.
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