Orgelmusik von Claire M Singer: Dröhnende Schleifen
Die schottische Organistin Claire M Singer entlockt ihrem Instrument neue Klänge. Ihr Album „Gleann Ciùin“ kreist zwischen Drones und Landschaftsbeschreibungen.
Die Orgel als Signaturinstrument hat in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Renaissance erlebt, gerade auch bei jungen Komponist*innen. Sie entdecken das Tasteninstrument neu und loten die Wirkmacht der Pfeifen aus. Weitab von liturgischem Schlagern à la „Großer Gott, wir loben dich“, verkopfter Ligeti-Exegese oder schwelgerischem Bach-Schunkeln entsteht Musik, für die Genre-Schubladen noch nicht definiert wurden.
Und das ist nicht der von den Major Labels so geliebte, weil leicht vermarktbare Todesstreifen „Neoklassik“. Vielmehr sind es ureigene Entwürfe, die frei oszillierend und komponierend die Gegenwart vertonen. Einige Musiker*innen arbeiten dabei mit elektronischen Hilfsmitteln und programmieren Orgeln über ihre Laptops.
Andere sind vor allem am Raumklang interessiert. Und wieder andere verstehen das technische Wunderwerk aus Pfeifen, Windwerk und Spieltisch als ganz individuell formbare Schnittstelle, mit der sich kreative Gedanken und Ideen in Klang – in Musik – verwandelt lassen. Claire M Singer gehört zur letzten Kategorie.
Glückliche Fügung
Denn die schottische Künstlerin kam zur Orgel wie der Techno zur Bassdrum – rein zufällig. Im Alter von sieben Jahren begann Singer, das Cello zu erlernen, wenig später auch Klavier. Vom Blatt zu spielen war ihr dabei von Beginn an ein Graus, eigene Stücke zu komponieren faszinierte sie.
Claire M Singer: „Gleann Ciùin“ (Touch/Groove Attack)
Als Teenagerin spielte Claire M Singer Cello in Orchestern, aber auch Keyboards für Bands, entdeckte die Möglichkeiten von Elektronik und Studiotechnik für sich. Während ihres Kompositionsstudiums am Londoner Goldsmiths College spezialisierte sie sich auf genau diese Aspekte.
Inzwischen ist sie in der Londoner Union Chapel hauptamtlich als Organistin tätig, verantwortet auch das Konzert- und Workshop-Programm der Kulturkirche, führt ihre Orgelkompositionen weltweit auf und hat mehrere Soloalben veröffentlicht, die das altehrwürdige Instrument in so ungewöhnlichem wie zeitgemäßem Licht zeigen.
Ins Alltagsleben krachen
Wie es dazu kam? „Glückliche Fügung“, sagt Singer. „Ein Organist überzeugte mich, für die Aubertin-Orgel am Kings College in Aberdeen Musik zu komponieren. Ich fuhr hin und war überwältigt. Das ganz langsame Ziehen von Registern produzierte Klänge, die quasi elektronisch klangen, nur besser. Genau damit wollte ich mich fortan beschäftigen. Das Instrument war in mein Leben gekracht.“
Wie es klingt, wenn ein Instrument ins Leben einer Komponistin kracht, hört man am besten auf „Gleann Ciùin“, Singers aktuellem Album. Dieses „stille Tal“ ist der zweite Teil einer Trilogie, in der sie Höreindrücke langer Spaziergänge durch die spröde und umso mitreißendere Schönheit der Cairngorms, einer Bergregion ihrer schottischen Heimat, in Musik übersetzt.
Die einfachen Akkordfolgen, die Singer auf der Orgel spielt, funktionieren wie eine imaginäre Webcam, die in Musik übersetzte Live-Footage sendet. Epische Abbilder einer Landschaft, in der die Menschheit noch kaum Spuren hinterlassen hat. Erhaben, unbeschreiblich, überlebensgroß.
Höhen und Tiefen
Und doch nahbar und vertraut, trotz aller Schroffheit. Dennoch, „Gleann Ciùin“ ist kein Soundtrack eines Image-Films der schottischen Tourismusbehörde, sondern vielmehr klischeebefreite Annäherung an die Natur mit allen Höhen und Tiefen, Huckeln und Buckeln, aufgenommen an und mit historischen Orgeln: im Haddo House in Aberdeenshire, der Old High Church in Inverness, St James’ Episcopal Church in Stonehaven, der St Margaret’s Church in Knightswood und im Cottiers in Glasgow.
Neben ihr spielen auch Yann Ghiro, Patsy Reid und Andy Saunders in Knightswood: Streicher, Blech- und Holzblasinstrumente. Singers Herangehensweise ist autodidaktisch. „Gelernt“ hat sie das Instrument bis heute nicht, dafür aber Stunde um Stunde geübt, ausprobiert und experimentiert. „Für mich ist die Orgel eine Klangquelle. Ich habe nie Unterricht genommen und würde es nie wagen, Kompositionen anderer zu spielen. Was ich an und mit diesem Instrument tue, orchestriert das, was ich fühle. Das ist sehr persönlich. Niemand kann meine Partituren lesen.“
Schottland, Highlands, Landschaft: Die Idee der environmental music ist alles andere als neu. „Gleann Ciùin“ passt aber trotz aller offenkundigen Anknüpfungspunkte nicht in dieses Schema, ganz im Gegenteil: Als Kraftwerk 1977 „Europa Endlos“ sangen, stellte die Band auch nur einen lockeren Assoziationsraum zur Disposition, der mit der damaligen Ideengeschichte resonierte.
In Musik gegossene Feldaufnahmen
Auch Singers „Gleann Ciùin“ funktioniert so. Ihre Spaziergänge sind in Musik gegossene Field Recordings, ohne die Umwelt faktisch hörbar zu machen. Die ist vielmehr omnipräsente Metapher. Singer hat die vielleicht purpursten Drones der bisherigen Musikgeschichte aufgenommen – kontrastiert und kontextualisiert von den weiteren Instrumenten, die die Idee von Weite und Nähe ganz anders aufnehmen und spielen und das Album so noch einzigartiger machen.
Das ist pure Trance. Fokus und Vertrautheit, immer gepaart mit dem verstörenden Unnahbarem. Statt leise Geräusche und Aufnahmen des Draußen eins zu eins abzubilden und in die Kompositionen zu integrieren, ist der Sound der Orgel Verstärker des persönlichsten Inneren. Alles leuchtet, alles atmet. Und nichts ist, wie es scheint.
Es entsteht ein Gefühl des Taumelns, das verführerischer kaum sein könnte. Damit passt die Komponistin mit ihrer Musik umso besser in das Œuvre ihres britischen Labels Touch, auf dem seit jeher das Experimentelle und Andersartige veröffentlicht wird. Nicht nur die Field Recordings des Klangkünstlers Chris Watson haben das Label geprägt, auch Künstler wie der Wiener Gitarrist Fennesz reüssierten bei der Londoner Plattenfirma mit inzwischen legendären Alben.
Pastorale Komponente
Singer sieht die Verbindung: „Die Musik ist eine direkte Konsequenz meiner Wanderungen. Die ersten beiden Teile sind nun erschienen, der dritte bereits klar definiert. Die pastorale Komponente ist allgegenwärtig und wird von der Orgel in Szene gesetzt. Die Landschaft ringt mir etwas ab, was ich nur mit der Orgel abbilden kann. Das Cello hat nicht genug Kraft, diese Erfahrungen in Musik zu übersetzen.“
Es ist genau dieses Ringen, das „Gleann Ciùin“ so einzigartig macht. Was war, was wird? Ebenso unklar wie das, was ist. Aber Claire M Singers mitreißende und dröhnende Schleifen in Dur und Moll machen den Himmel frei für unausweichliche Fragen.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert