Opposition in Ungarn: Frischer Wind auf dem Heldenplatz

Zehntausende kommen zur Abschlusskundgebung von Oppositionsführer Péter Magyar in Budapest. Bei der EU-Wahl könnten bis 30 Prozent drin sein.

Mann hinter Mikrofon daneben eine ungarische Fahne

Peter Magyar bei seinem Auftritt am Samstag in Budapest Foto: Bernadett Szabo/rtr

BUDAPEST taz | Beim ethnographischen Museum in der ungarischen Hauptstadt Budapest ist für die meisten Endstation. Der eben noch knallvolle Linienbus leert sich auf einen Schlag. Die Busladung Menschen folgt den anderen, die zügigen Schritts alle in dieselbe Richtung strömen. Immer der dröhnend lauten Musik nach. Wer will kann sich entlang der Straße noch mit Ungarn-Fahnen eindecken. Nicht wenige tun das. Péter Magyar hat seine Anhänger zum Heldenplatz gerufen und sie kommen in Massen.

Magyar ist ein Phänomen. Bis vor wenigen Monaten kannte ihn kaum jemand, mittlerweile das ganze Land. Der 43-Jährige stammt aus Viktor Orbáns innerstem Machtzirkel, machte Karriere unter dessen Fidesz, übte mehrere Diplomatenposten aus. Als im Frühjahr bekannt wurde, dass Präsidentin und Regierung den Mitwisser eines schweren Pädophilie-Falls amnestieren ließen, platze Magyar der Kragen. Er brach mit seiner früheren Partei und machte einen heimlichen Mitschnitt öffentlich, der die Korruption der Regierung klar wie nie zuvor offenlegte.

Es kam zu Protesten in ganz Ungarn, die sich Magyar rasch zu eigen machte. Er schaffte es, Zigtausende zu mobilisieren, auch auf dem Land. Am 6. April verkündete er schließlich, bei der EU-Wahl zu kandidieren. Weil keine Zeit für eine eigene Parteiengründung blieb, dockte er bei der Kleinstpartei Tisza an und wurde deren Spitzenkandidat.

Seitdem ist er fast permanent im Wahlkampf, tourt landauf, landab. Seine Popularität verdankt er auch seiner professionellen Inszenierung in den sozialen Medien. Seine Gegner kritisieren den übertriebenen Personenkult, nicht ganz zu Unrecht.

Gelöste Stimmung

Das wird bei Magyars Wahlkampfabschluss auf dem Heldenplatz deutlich, auf den die Junisonne brennt. Die Stimmung ist gelöst, das Publikum durchmischt, der Schweiß rinnt. Aus den Lautsprechertürmen donnern zwischen Einpeitschern, Vorrednern und Musik immer wieder rhythmisch Basstrommeln. Dann klatschen Tausende und skandieren Magyars Parolen.

Die Menschenmenge erstreckt sich über knapp einen Kilometer entlang des prächtigen Andrassy-Boulevards. Beschallt von mehreren Soundtürmen und Leinwänden stehen Zehntausende allen Alters auf der gesperrten Autofahrbahn, sitzen auf dem Bürgersteig oder den Simsen der noblen Villen und Botschaftsgebäude. Es dürfte die größter aller bisherigen Oppositions-Demonstrationen gewesen sein.

Die Bühne im Schatten des Milleniumsdenkmals, das mit seinen sieben Reiterstatuen und einer großen Säule das 1.000jährige Jubiläum der ungarischen Landnahme 896 feiert, ist vergleichsweise klein. Aber das macht nichts, denn links und rechts davon stehen riesige Videowände. Die Lautsprecher daneben sind in riesige Ungarn-Fahnen eingewickelt und wohl bis zum Anschlag aufgedreht.

Man sieht nicht allzu viele EU-Fahnen, dafür etliche ungarische. Aus der Menge sticht ein Plakat, dass Regierungschef Viktor Orbán neben Wladimir Putin, Alexander Lukaschenko und Kim-Jong Ill zeigt. Auch der ungarische Außenminister, ebenfalls von der Fidesz, ist darauf zu sehen. Der war seit Kriegsbeginn 2022, so wird ihm vorgehalten, nur einmal in der Ukraine, mehrmals in Russland und Belarus.

Mit Piloten-Sonnenbrille

Als Magyar erstmals auf die Bühne kommt, wie immer in weißem Hemd und mit Piloten-Sonnenbrille, brandet Jubel auf. Magyar kostet den Moment aus, schweigt sekundenlang, während die Videowände Luftbilder der Menschenmenge zeigen. Magyar begrüßt seine Anhänger:innen, erinnert kurz daran, warum alle da sind: Die Regierung müsse abgewählt werden, es brauche ein Ende von Korruption und Propaganda. Dann macht er vorläufig seinen Mit­strei­te­r:in­nen Platz.

Die Sonne ist erbarmungslos, Wasser wird von Freiwilligen ausgegeben, doch die allermeisten harren aus. Die Begeisterung ist ungebrochen, als Magyar nach anderthalb Stunden wieder erscheint. Neues gibt es in seiner einstündigen Rede kaum zu hören.

Magyar verspricht, das Bildungs- und Gesundheitssystem zu reformieren, die Beziehungen zur EU zu verbessern und Russland klar als Aggressor im Krieg gegen die Ukraine zu benennen. Viel konkreter wird er nicht und das muss er auch gar nicht. Denn genau die Unbestimmtheit ist der Grund, warum er momentan noch in allen Wählerteichen fischen kann.

„Die meisten denken, dass so gut wie alles besser ist als Orbán. Aber bald wird sich Magyar festlegen müssen, wofür er steht. Das wird ihn auch Stimmen kosten“, sagt die 31-jährige Eszter. Schließlich sei auch er ein Konservativer und stamme aus der Fidesz. Eszter ist Pharmazeutin und stammt aus dem Süden Ungarns. Seit einem Jahr lebt sie aber in Slowenien, auch aus politischen Gründen, wie sie sagt.

Das Vertrauen verspielt

Nun ist sie eigens nach Budapest gekommen, um Magyar zu sehen. Er habe sie überzeugt, wie sie sagt. Warum konnte die Opposition früher keine Erfolge erzielen? Sie hätte ihre Chancen gehabt, aber das Vertrauen verspielt – und solle besser Platz für Neues machen, sagt Eszter. Wenn eines Tages die Regierung wechsele, würde sie gern zurück nach Ungarn kommen. „Ich mag mein Land.“

So ähnlich sehen das viele. Auch Bianka (31) und Tomas (29), gekommen mit ihren beiden kleinen Kindern und Vater Zsolt (56), würden gern in ihrer Heimatstadt Budapest bleiben. Seit einiger Zeit leben sie aber in Sopron, ganz im Westen Ungarns. Am liebsten möchten sie ins Wiener Umland ziehen, sagt Bianka. Dort, in Österreich, seien Löhne und Sozialsystem besser.

Ihr Mann Tomas arbeitet in der Logistik und pendelt schon jetzt dorthin, wie viele in Sopron. Das schmerzt Großvater Zsolt, eingewickelt in eine Ungarn-Fahne, der die Familie gern zusammenhalten würde. Aber er verstehe sie, wie er sagt. Auch er finde es an der Zeit, dass Orbán nach 14 Jahren Platz für Neues machen solle: „So ist die Demokratie.“

Am Ende seiner Rede beschwört Magyar noch einmal den Zusammenhalt, alle sollen sich an den Händen fassen. Mit Musik und Jubel endet sein Auftritt. Als sich die Menge langsam auflöst, gibt es Gelegenheit für ein Gespräch. Zoltán Tarr, einer der Vorredner, kandidiert auf drittem Listenplatz der Tisza.

Der Job verloren

Der eher unscheinbare Mann ist reformierter Pfarrer, war bis vor kurzem auch Mitarbeiter im Wirtschaftsministerium. Als er jedoch öffentlich die Beteiligung des Budapester Bischofs im Pädophilie-Amnestieskandal kritisierte, verlor er seinen Job. Eine Begründung erhielt er nicht. Tarr geht aber fest davon aus, dass die Entlassung politisch motiviert war. Und entschied sich, bei Magyars Bewegung mitzumachen.

Groll merkt man Tarr heute nicht an. Doch er müsse erst noch ins Leben als Politiker finden, wie er eingesteht. Viel Zeit dafür bleibt nicht. Knapp ein Drittel der 21 EU-Mandate könnten an Magyars Tisza gehen, denn Umfragen geben ihr 25 bis 30 Prozent. „Selbst wenn wir ein gutes Ergebnis erzielen, werden wir es nicht leicht haben“, sagt der Neupolitiker. „Die Regierung wird alle Mittel gegen uns und unsere Unterstützer ausschöpfen.“

Er hofft, dass Tisza auch bei den zeitgleich abgehaltenen Kommunalwahlen in Budapest gut abschneidet. Die Partei wollte ursprünglich landesweit antreten, am Ende wurden es nur einige wenige Gemeinden, was der knappen Zeit geschuldet war. Darunter aber eben auch die Hauptstadt.

„Die meisten von uns haben keinen politischen Hintergrund. Wir hoffen, auch in Budapest wichtige Erfahrung zu sammeln, die uns später hilft.“ Alle wissen natürlich: Der wahre Kampf wird die Parlamentswahl im Frühling 2026. Bis dahin braucht auch Magyar, der in den vergangenen Wochen alles gab, viel Ausdauer. Bis jetzt scheint er sie zu haben.

Als sich die Menge längst in alle Richtungen verteilt und der Verkehr wieder fließt, bleibt eine Traube Menschen rund um den Oppositionsführer stehen. Magyar ist tatsächlich anderthalb Stunden geblieben, um sich, von Securities umringt, unter seine Fans zu mischen, Autogramme zu geben, Selfies zu schießen. Irgendjemand spielt Gitarre, dann wird gesungen. Magyar scheint es nicht eilig zu haben. Irgendwann geht er dann doch. Aber er wird wiederkommen. Das hoffen hier alle.

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