Opernpremiere „Lulu“ in Berlin: Abenteuer des Verstands
Für immer unvollendet: Andrea Breth hat für die Berliner Staatsoper Alban Bergs "Lulu" neu inszeniert und entschlackt - mit Daniel Barenboim und der Staatskapelle.
Wahrscheinlich hat Alban Berg selbst nicht geglaubt, dass irgendeine Sängerin alles singen kann, was er in die Rolle seiner Lulu hineingeschrieben hat. Oft muss sie nur sprechen, manchmal aber auch auswandern in die große Arie, dann zurückkehren zum Chanson, sich ein wenig in der Operette herumtreiben und manchmal die Stimme in Höhen hinaufjagen, die nicht mit Gesang, sondern nur mit Schreien erreichbar sind – wenn überhaupt. Das alles natürlich in Bergs Idiom, in größtmöglicher Freiheit also, was harmonische und rhythmische Muster angeht.
Er kannte Mojca Erdman nicht. Sie kann das alles nicht nur irgendwie über die Rampe bringen, sie kann es singen. Mit vollkommen beherrschter, klarer Stimme selbst in jenen Höhen, die eigentlich nicht mehr singbar sind, und passt ihr Timbre mühelos allen Gattungen an, mit denen Berg herumgespielt hat, als der dieses seltsame Stück schrieb. Sie ist der einzige Star dieser neuen Inszenierung der für immer unvollendeten Oper „Lulu“, die am Samstag in Berlin ihre Premiere hatte.
Es ging nicht wirklich gut aus, trotz der unglaublichen Mojca Erdman. Sie ist Musikerin, tritt mit den besten Orchestern und Dirigenten in den besten Häusern der Welt auf, hat endlos viele Preise gewonnen, und Wolfgang Rihm hat sogar eine ganze Oper für sie geschrieben, aber sie ist kein Star, der zu Applausstürmen hinreißt. Der Beifall klang verhalten freundlich, selbst dann noch, als endlich die komplette Staatskapelle auf der Bühne versammelt war und Daniel Barenboim sein geliebtes Ritual als Erster unter Gleichen absolvieren durfte. Lebendig wurde es erst im Saal, als auch noch Andrea Breth mit ihrem Regieteam hinzukam: donnerndes Buhgeschrei der Freunde jener Lulu, die wir zu kennen glauben: das Weibchen, das doch nichts dafür kann, dass es so viele Männchen hat.
Sie hatten recht. Bei Breth gibt es diese Lulu nicht. Erdman ist eine sehr schöne, zierliche Frau, aber die Kostümbildnerin Moidele Bickel hat ihr ein silbern glitzerndes Paillettenkleid angezogen. Es zeigt nichts von dem Fleisch, über das die Männer von Frank Wedekind einst so heftig herfallen mussten, dass die Polizei kam und seine Theaterstücke „Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“ wegen Unzucht verbot.
Karl Kraus hat eines davon in Wien trotzdem privat aufgeführt. Auch Alban Berg war dabei – es war die Zeit, in der gerade Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter“ erschienen war und Furore machte. Andrea Breth hat sich davon nicht beeindrucken lassen. Statt erneut einzutauchen in den schwülen Sexualdunst der (literarischen) Vorlage, hat sie das Stück einer close lecture unterzogen.
Keine Sekunde langweilig
Das Ergebnis ist ebenso kühl wie die Methode. Die Bühne von Erich Wonder ist ein Schrottplatz in irgendeiner postdemokratischen Metropole. Licht gibt es kaum, manchmal aber Nebel. Die Spielfläche in der Mitte ist ein Käfig aus Eisenprofilen, die vielleicht zur Fassade eines Bürogebäudes gehört haben, das man vergessen hat, ganz abzureißen. Jetzt sind sie alles: Atelier des Malers, Salon des Doktor Schön, und Zuhälterbude der alten Lulu in London, wo sie Jack the Ripper heimsucht, samt der Gräfin Geschwitz.
Nichts ändert sich, die Sozialromanze vom Aufstieg und Fall der unschuldigen Nutte findet nicht statt. Lulu bleibt von Anfang bis zum Ende dieselbe Glitzerpuppe, ihre Männer sind festgelegt auf ihre Running Gags, statt einer dramatischen Handlung sind Einzelszenen zu sehen, die sich lediglich durch den Grad ihrer internen Absurdität unterscheiden.
Alle sind ständig dabei, irgendetwas zu reden und singen, aber niemand spricht mit niemandem. Trotzdem ist dieses Theater keine Sekunde langweilig. Das liegt vor allem daran, dass Breths Methode auch Alban Berg von der erdrückenden Last einer angeblich bedeutsamen Männerfantasie befreit hat. Ebenso frei kann Daniel Barenboim nun mit seiner Staatskapelle den unglaublich weiten Horizont dieser Musik öffnen.
Alban Berg ist nicht mehr (wie noch in „Wozzeck“) Schönbergs Schüler. Wedekind, die Skandalnudel, war nur der Anlass für Ausflüge in völlig neue musikalische Welten. Berg probiert so ungeniert Stilmittel und Effekte aus und kümmert sich so wenig um das große Ganze, dass man versucht ist, von „Postmoderne“ zu sprechen. Aber Berg zitiert nicht. Er verwandelt alles zunächst Fremde in seine eigene Sprache um: oft überwältigend schön bis an den Rand des Kitschs, aber auch dann noch von verwirrend komplexer Polyfonie.
Leider fand die Premiere im Rahmen der alljährlichen Barenboim-Festtage der Staatsoper statt. Die Enttäuschung war damit programmiert, denn ein rauschendes Fest kann diese Inszenierung nicht sein. Breth und Barenboim sprechen die Wahrheit aus: Alban Bergs „Lulu“ ist das Werk eines genialen Musikers, aber kein Meisterwerk. In Berlin ist sie ein Abenteuer des Verstandes geworden, nicht des Gefühls. Schade, dass es davon nur noch vier Vorstellungen gibt.
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