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Oper über Antisemitismus in Berlin„Juden wie Sand am Meer“

Premiere der Berliner Staatsoper im Schillertheater: Marthalers „Letzte Tage“ über Wien als einstige Hauptstadt des Antisemitismus.

Das Schillertheater ist kein historischer Plenarsaal. „Letzte Tage. Ein Vorabend“ in Berlin. Bild: Bernd Uhlig

Wien am Ende des 19. Jahrhunderts, Hauptstadt von Xenophobie und Antisemitismus. Wien, die Metropole eines dem Untergang geweihten Habsburger Reiches, am Vorabend des Ersten und Zweiten Weltkrieges und des Holocausts. Dieses Wien hat Christoph Marthaler ursprünglich im historischen Plenarsaal des früheren österreichischen Parlaments in Szene gesetzt und zum Ausgangspunkt von „Letzte Tage. Ein Vorabend“ gewählt. Der Titel ist angelehnt an Karl Kraus. Die Wiener Inszenierung fand 2013 ein großes Echo.

Versetzt nach Berlin mussten Marthaler und sein Team um Dramaturgin Stefanie Carp nun ohne historisch aufgeladene Patina auskommen. Das Schillertheater ist ja kein historischer Plenarsaal. Der neuen Situation begegnet man von der Raumgestaltung (Duri Bischoff) her ziemlich schlicht. Bühne und Publikumsraum sind spiegelverkehrt angelegt, das muss genügen. Schauspieler und Musiker agieren aus den Publikumsrängen, die Zuschauer finden sich auf Behelfssitzen auf der Bühne aufgereiht. Eine Verfremdung, mehr nicht.

Marthalers Inszenierungsweise vertraut auf kleine Gesten, ein herumstehender blauer Putzeimer, Aufmerksamkeit durch Reduzierung. Fünf Schauspielerinnen in türkisfarbenen Kitteln betreten den „Plenarsaal“, putzen und parlieren wienerisch in den leeren Publikumsrängen. Ein Ensemble männlicher Clowns wandelt sich schnell in nüchtern aussehende Abgeordnete, die sich beschimpfen. Ebenso die Frauen, die ihre Putzkittel abgelegt haben.

Antisemitische Rede

Die Oper

„Letzte Tage. Ein Vorabend“ – ein Musiktheater-Projekt von Christoph Marthaler in der Staatsoper im Schiller Theater Berlin, am 5., 6. und 7. September 2014

Das Jahr 1894 wird aufgerufen. Josef Ostendorf rezitiert eine antisemitische Rede Karl Luegers. Ostendorf, der große Schauspieler, spricht ruhig und sanft. Lueger war von 1897 bis zu seinem Tod 1910 auch Wiener Bürgermeister, Adolf Hitler schulte sich an ihm. „Wir belehren das Volk über seine Feinde,“ sagt Ostendorf mit der Stimme eines vordergründig harmlosen Konfektverkäufers. Beiläufig belehrt er über „die Juden“, die es in Wien „wie Sand am Meer“ gebe und die man „aus Liebe zur Menschheit“ vernichten würde. 1894, das Vorspiel. Nach Lueger sind bis heute zentrale Orte in Wien benannt oder waren es gerade noch.

Zuvor hat Michael von der Heide, der Schweizer Chansonnier, mit dem Marthaler seit 1996 zusammenarbeitet, mit großem Ernst ein pathetisches Lied Pjotr Leschtschenkos dargeboten. Leschtschenko, „König des russischen Tangos“, überlebte Weltkrieg und Nazis, wurde aber nach 1945 von den Stalinisten ermordet. Marthalers Inszenierungen pflegen das Spiel mit Entgegensetzungen: hier das dokumentarisch und fragmentarisch gesprochene Wort, hart oder humorvoll, dort die übergangslos geschnittene Musikeinlage, eine tänzerisch/körperakrobatische Kommentierung. Aus der Montage ergibt sich die Erzählung.

Das tragende Element des Abends waren Stücke der von den Nazis verfolgten jüdischen Musiker und Komponisten. Unter der Leitung von Uli Fussenegger agiert ein sechsköpfiges Ensemble als Teil der Bühneninszenierung. Es spielt Werke von Pavel Haas, Erwin Schulhoff, Jozef Koffler, Ernest Bloch, Alexandre Tansman, Viktor Ullmann, Fritz Kreisler und Szymon Laks. Viele dieser Komponisten starben in Vernichtungslagern, wo sie oft bis zuletzt am musikalischen Ausdruck festhielten. Trost und Verteidigung der individuellen Würde durch künstlerische Abstraktion. Daraus resultieren komplexe und wunderschöne Kompositionen, die einen aber tieftraurig stimmen.

Die bewegendste Szene des Abends am Ende: Musiker und Schauspieler formieren sich zu zwei Chören und verlassen Marthaler-typisch – zeitverzögert und in temporeduzierter Körpersprache – die Bühne. Aus den Katakomben des Schillertheaters hallt der Gesang von Mendelssohns Chorlied „Wer bis an das Ende beharrt“ noch eine Weile nach. Die Artisten dienen an diesem Abend dazu, der Musik der toten Komponisten Körper und Bilder zu geben. Eine Verneigung vor ihrer künstlerischen Subtilität und Uneigennützigkeit.

Schwächen und Stärken

Schwächeln tut die Inszenierung aber bei Interpretationen der Gegenwart. So muss die großartige Marthaler-Schauspielerin Bettina Stucky „eine verstörte Weltoffene“ als heutige Wienerin geben. Über die Darstellung platter Alltagsrassismen kommt sie dabei nicht hinaus. Abgrenzen und moralisieren sind Killer für Wortwitz und Aufklärung. Interessant wäre es, Phänomene der Gegenwart wie die deutsche AfD oder die österreichischen FPÖ und deren jugendkulturellen Ausdruck in Gestalt von Volks-Rock-’n’-Roller Andreas Gabalier genauer zu betrachten, statt schnurgerade Parallelen zum Historischen zu ziehen.

Auch wenn es diese manchmal gibt. An anderer Stelle tritt Ueli Jäggi als der an seiner „Auserwähltheit leidende skythonumerisch-etruskische Hunne“ auf. Jäggi spricht aktuelle Texte Victor Orbáns und aus der ungarischen Presse. Ein bedrückend aggressives Gebräu aus Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus. Den entscheidenden Stoß versetzt dem der Schauspieler Jäggi nicht durch eine sprachliche Kommentierung, sondern durch seine daran anschließende krumme Turnerei.

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