Oper als multimediale Kunstform: Telemann als Videoschnipsel-Collage
Das Berliner Lwowski-Kronfoth-Kollektiv spielt am Ort der Hamburger Uraufführung Telemanns „Orpheus“ als multimediale Konstruktion.
Der Orpheus-Mythos ist ein beliebter Opernstoff, schließlich gilt die Hauptfigur als begnadeter Sänger, der Steine, Pflanzen, Tiere zum Weinen bringt und mit seiner Kunst sogar den Gott der Unterwelt erweichen kann. Mit seiner „Orpheus“-Oper lag Georg Philipp Telemann, einer der produktivsten Komponisten der Musikgeschichte, also voll im Trend.
Als konzertante Aufführung wurde sein „Orpheus“ am 9. März 1726 im Theater am Gänsemarkt in Hamburg uraufgeführt. Fast 300 Jahre später findet die als Fragment überlieferte Oper ebendort wieder eine Bühne, in der opera stabile, der kleinen Spielstätte der Hamburgischen Staatsoper.
Das Berliner Lwowski-Kronfoth-Musiktheaterkollektiv hat sich des äußerst selten gespielten Werks angenommen. Die Künstlergruppe wollte, frisch aus dem Studium kommend, „nicht in die ewigen Abgründe des Nicht-Regieführens hinabfallen“, schreibt Mitgründerin Julia Lwowski im Programmheft. Seit 2012 präsentieren sie die Performancereihe „Hauen und Stechen“ in den Räumen der Berliner „Galerina Steiner.“ Elemente aus Oper, Schauspiel und Film sind in den Arbeiten des Kollektivs oft nahezu gleichberechtigt.
Mit „Orpheus“ zeigt das Kollektiv seine erste Arbeit an der Hamburgischen Staatsoper und es scheint, als erfüllte die Künstlergruppe perfekt das Konzept, das Intendant Georges Delnon sich zur Spielzeiteröffnung auf die Fahnen geschrieben hat: „Oper als multimediale Kunstform.“ Noch dazu für die opera stabile, den ausgesprochenen Experimentierraum des Hauses: Dieser „Orpheus“ ist spielerisch und leicht, tiefsinnig, musikalisch auf hohem Niveau – und auch noch multimedial.
In der Interpretation des Lwowski-Kronfoth-Musiktheaterkollektivs spielt der Bariton Zak Kariithi Orpheus als überschätzten Street-Art-Künstler, der für ein paar kindliche Kreidezeichnungen, die er auf den Bühnenboden kritzelt, abgefeiert wird. Dennoch oder gerade deswegen ist nicht nur Eurydice (Maria Chabounia), sondern auch Königin Orasia (Gabriele Rossmanith) in ihn verliebt. Nach ihrer Nebenbuhlerin wirft Orasia mit Blicken, die töten könnten, außerdem mit unzähligen Blitzen, Pfeilen, Dolchen und Gift. Auf der Projektionsfläche flackern unterstützend die entsprechenden Comic-Elemente. Doch Eurydice ist einfach nicht totzukriegen. Erst der Schlangenbiss, den der Cembalist und musikalische Leiter Volker Krafft ihr in einem erotisch-wilden Handgemenge zufügt, schafft sie endlich von dieser Welt.
Christina Schmitt hat Raum und Kostüme fantasievoll und klug gestaltet. Hinter einer beigefarbenen Feinfadengardine sitzt das Kammermusikensemble, davor und daneben stehen angestaubte Kellerregale sowie ein Cembalo. Zur Seite wird der Raum von einer transparenten, raumhohen PVC-Wellbahn abgeschlossen, Platz für Projektionen. Aus den Regalen schälen sich im Laufe des Abends – fast schon mumifiziert und in unendlich viel weißes Tuch gewickelt – Orpheus und sein Freund Eurimedes (Alex Kim). Auf dem Wellblechplastik wechseln sich von Martin Mallon realisierte Live-Projektionen mit Spielfilmszenen aus Cocteaus „Orphée“, Bluescreen-Effekten und reinszeniertem Bollywood-Kitsch ab.
Alles ist in dieser Inszenierung spielerische Behauptung, alles ist Theater, alle Effekte sind transparent. Da werden Tränentropfen großzügig übers Gesicht verteilt, da quellen rote Federn als Blut, da wird gestorben, geliebt und auch mal Cocteau in die Intellektuellenecke gebeten. Überhaupt ist Cocteaus Film „Orphée“ von 1950 ein starker und berechtigter Ideengeber dieses Abends. Da wird – in Videosequenzen – rückwärts gesungen, rückwärts agiert und ein schwarz uniformierter Motorradfahrer wird auch an diesem Abend zum Todesboten.
„Orpheus“ ist ein kunstvoller, ein verschachtelter und vor allem auch ein überraschend heiterer Abend, der die Ursprungsgeschichte ernst nimmt und ihre Figuren liebevoll überzeichnet. Ein Abend, der aus dem Orpheus-Mythos eine tiefsinnige Tragikomödie baut, kurzweilig und berührend zugleich. Aus dem dreisprachigen Libretto – Deutsch, Italienisch, Französisch – schuf Telemann ein musikalisch vielschichtiges Werk mit deutschen Rezitativen, italienischen Arien sowie französischen Chören und Balletten.
Zu diesem selbst schon collagenartigen Konstrukt passt der unerschrockene Regietheateransatz von Franziska Kronfoth und Julia Lwowski perfekt. Zitate, Querverweise und die daraus entstehende, herrlich wilde Gleichzeitigkeit unterstreichen alles Unfertige an dieser Oper.
Die großartigen Sänger bewegen sich in diesem Gedankengetümmel absolut souverän, agieren als Talkmaster und Stier-Bezwinger, kokettieren mit dem Orchester genauso wie mit dem Publikum. Nebenbei und sowieso vollbringen sie musikalische Höchstleistungen, singen diffizile Arien und Duette als wären diese nicht mehr als eine wunderschöne Nebensache.
Dem Lwowski-Kronfoth-Musiktheaterkollektiv ist eine absolut unprätentiöse Inszenierung gelungen – organisch, eklektizistisch, assoziativ. An diesem herrlich distanzlosen Abend findet die Barockoper in die Gegenwart, überdauert die Liebe den Tod, weint ein Auge, während das andere lacht.
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