Open-Air-Festival „Haltestelle Woodstock“: „Wir befreien uns von Komplexen“
Jurek Owsiak ist der Vater des polnischen Open-Air-Festivals „Haltestelle Woodstock“. Er spricht über die Europameisterschaft, seinen Tod und den Lebenswillen der Polen.
KOSTRZYN NAD ODRA taz | Jurek Owsiak ist am Morgen um 6 Uhr aufgewacht. Es war die erste Nacht in seinem Wohnwagen auf dem Festivalgelände, er hat gut geschlafen. In der Nacht zuvor, als Owsiak noch im Hotel nächtigte, hatte er schlecht geträumt.
In zwei Tagen beginnt das 18. Woodstock-Festival in Kostrzyn nad Odra an der deutsch-polnischen Grenze. Owsiak träumt dann immer, dass etwas schiefgeht. Das Interview soll auf der neu errichteten Aussichtstribüne für die Medien stattfinden. Owsiak überlegt es sich anders, im Bereich hinter der Hauptbühne, wo geschraubt und ausgeladen wird, bittet er auf der geöffneten Kofferraumklappe eines Transporters Platz zu nehmen. Duzen ist Pflicht.
Der „Jurek“ sieht so aus, wie er auch in seinem Videoblog auftritt: kurze Cargo-Hosen, Woodstock-Shirt und eine massive Brille, rot mit dunklen Punkten, ein kleines Bier in der Hand.
taz: Jurek, im Sommer gibt es jedes Wochenende Festivals. Was ist besonders an Woodstock?
Jurek Owsiak: Wir verkaufen keine Karten, es kostet keinen Eintritt. Man kennt sich, man grüßt sich, alle sind sehr lieb und kultiviert. Geld haben wir nur von Sponsoren, und wir laden nur Bands ein, die wir uns leisten können. Es gibt die „Akademie der schönen Künste“, ein Zelt, wo mit prominenten Gästen diskutiert wird. Oft wissen die Leute gar nicht, wer spielt. Nur letztes Jahr, als „The Prodigy“ kam, wurden wir ein bisschen überrannt.
700.000 Menschen kamen, ihr musstet die Band mit extra Absperrzäunen schützen. Aber alles ging gut. Weil die Leute Jurek Owsiak glauben?
Ich mag Demokratie, aber der Chef bin ich. Deswegen funktioniert das hier alles. Beim Woodstock arbeiten alle ehrenamtlich – keiner kriegt Geld. Und ich verantworte alles.
Jurek Owsiak, Jahrgang 1953, geboren in Danzig, aufgewachsen in Warschau. Er arbeitet als Journalist, dreht Filme und ist ausgebildeter Glasfenstermaler und Psychotherapeut sowie Gründer und Dirigent des „Großen Orchesters der Weihnachtshilfe“ (poln.: Wielka Orkiestra Swiatecznej Pomocy, WOSP), einer Charity-Stiftung.
Das Festival „Haltestelle Woodstock“ in Kostrzyn nad Odra organisiert Owsiaks Stiftung seit 1995. Die Musiker treten ohne Gage auf – an diesem Wochenende unter anderem der Frankfurter Gypsy-DJ Shantel und die britische Elektroband Asian Dub Foundation. Das Festival geht vom 2. bis 4. August 2012 und ist von Berlin mit der Bahn zu erreichen. Mehr: www.wosp.org.pl
Was ist die Idee des Festivals?
Eigentlich ist es der Dank für die Spendensammlungen, die wir mit unserer Stiftung, dem „Großen Orchester der Weihnachtshilfe“ (WOP), machen. 120.000 Freiwillige sammeln Geld auf der Straße oder geben Konzerte. Dieses Jahr haben wir 17 Millionen Dollar gesammelt. In polnische Krankenhäusern haben wir in den letzten 20 Jahren 120 Millionen Dollar für technische Ausstattung gesteckt. Und die Leute merken das. Manche bedanken sich bei mir, weil sie als Kind von den medizinischen Geräten profitiert haben.
Wie schaffst du es, so viele Leute zu mobilisieren?
Vor dem ersten Festival habe ich über meine Radiosendung hundert Freiwillige gesucht, die mir helfen. Die hundert Leute meldeten sich und fragten, was sie tun sollen. Und ich sagte: Du machst dies, du machst das.
In den 20 Jahren ist das Woodstock zum größten Open-Air-Festival in Europa geworden. Wie hat das seinen Charakter verändert?
In den letzten drei Jahren haben wir mehr Bands aus dem Ausland eingeladen. Das Festival hat eine sehr integrative Funktion. Letztes Jahr waren 100.000 Deutsche hier, die konnte man gar nicht sehen. Es ist eine große Familie.
In diesem Jahr eröffnen die Präsidenten Polens und Deutschlands das Festival. Wozu braucht es solche Symbole?
Präsident Komorowski schlug mir das vor, und ich fand das eine super Idee. Ich denke, die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen sind jetzt sehr gut, und der Besuch der Präsidenten zeigt, dass sie gepflegt werden.
Ist Woodstock politisch?
Politik macht immer etwas kaputt. Wir machen das auf Urlaubsbasis. Als Marek Belka und Leszek Balcerowicz, zwei bekannte polnische Wirtschaftsexperten, zur Akademie der schönen Künste kamen, war das Zelt voll. Ich war ganz von den Socken, dass junge Leute so viel Ahnung haben von Geld. Belka und Balcerowicz waren Finanzminister, die meinten zu mir: Jurek, was ist das für ein Niveau? Das ist ja besser als in der Uni. Dieses Gespräch hat viel gebracht, es hat Wissen vermittelt über Geld, Steuern, Investitionen und finanzielle Risiken. Ich würde das nicht Politik nennen, sondern Forum, Treffen oder Gespräch.
Ist Politik in Polen immer noch ein Schimpfwort?
Politiker haben keinen guten Ruf. In Deutschland gibt es eine gewachsene politische Kultur. Wir haben erst 20 Jahre des neues Systems hinter uns. Aber dieser Ort zeigt auch, dass junge Menschen plus Musik plus Alkohol keine explosive Mischung sind, wie manche Kirchenvertreter behaupten. Wir beweisen hier, dass man zusammen ungewöhnliche Dinge schaffen kann.
Ein Großereignis von der Tragweite weckt Begehrlichkeiten bei Vertretern von Politik und Kirche. Ist es schwierig, widerstreitende Interessen unter einen Hut zu kriegen?
Gegen die Kirche rebellieren wir ein bisschen. Wobei auch Pfarrer und ein Bischof kommen, die lernen hier eine andere Perspektive der Jugend kennen. Wir laden ein, wer uns gefällt, und denken nicht daran, uns jedes Mal zu rechtfertigen. Es kommt oft die Kritik, dass kommerzielle Firmen beim Woodstock-Festival eingebunden sind. Ich nehme mir die Zeit, das zu diskutieren. Denn ich habe auch die Pflicht, das zu erklären. Aber ohne Sponsoren kein Festival.
Leute aus dem konservativen politischen Milieu sind auf dem Woodstock-Festival bislang nicht aufgetreten. Gibt es eine schwarze Liste?
Ich würde jeden einladen. Mein schärfster Gegner ist vielleicht Tadeusz Rydzyk, ein ultrakatholischer Pfarrer. Ich akzeptiere sein Denken nicht. Aber wenn er hierherkommen würde, dann würde ich ihn mit offenen Armen empfangen. Es wäre eine Herausforderung. Ich will keine Korrektheit. Ich suche Personen, die offen sind.
Die Diskussionsveranstaltungen sind bis jetzt auf Polnisch. Wie wird das Festival in Zukunft seinen europäischen Anspruch einlösen?
Wir planen, mehr auf Englisch zu machen. Oder mit Simultanübersetzungen zu arbeiten. Wir wollen auch kluge Leute einladen, die für euch Deutsche wichtig sind. Warum sollten wir nicht die Finanzminister der Europäischen Union einladen? Draußen spricht keiner mit ihnen. Aber hier in Woodstock habe ich die Hoffnung, dass es geht. Wir haben hier eine Kultur geschaffen, dass die Leute sich hinsetzen und sich zuhören. Sagen wir, was mit den Banken passiert! Sagen wir, wo das ganze Geld hin ist!
Wäre das Woodstock-Festival ohne Jurek Owsiak möglich?
Ehrlich? Nein, ich glaube nicht. Ich gebe hier alles, und in all dem steckt mein Geist. Ich bin kein Mensch, der nicht vertreten werden kann. Aber ich habe meine Art, Woodstock zu machen, ich gehe auf die Bühne und rede mit den Leuten. Ich bin nicht bescheiden, ich weiß, wo mein Platz ist. Die Leute identifizieren sich stark mit meiner Person.
Wenn Owsiak stirbt, stirbt auch das Woodstock?
Dann stirbt es. Und dann muss man noch aufräumen. Und dann werden sich Leute finden, die das weiterführen wollen.
Für viele Jugendliche bist du eine Art Vaterfigur. Du erinnerst sie daran, dass sie ihren Eltern Bescheid sagen, bevor sie zum Woodstock aufbrechen, du warnst vor Drogen. Wie kommst du zu dieser Rolle?
Die Rolle hat mich gefunden. Ich würde nie Präsident werden, das wäre langweilig – und ich könnte kein Bier trinken. Unter Druck wäre ich, wenn ich jemanden repräsentieren müsste. Ich mache das nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil es mir Spaß macht. Und ich freue mich, wenn die Leute auf mich hören. Aber – Gott bewahre – ich will mich nicht aufdrängen. Ich habe genug Distanz zu dem, was ich tue.
Eine letzte Frage an dich als ausgebildeter Psychotherapeut: Hat sich das Selbstwertgefühl der Polen durch die EM 2012 verändert?
Ja, es war sensationell. Wir haben uns abgeschaut von den Österreichern, den Deutschen, den Briten, wie die Spaß haben. Die Polen haben einen großen Willen, so zu leben wie andere Nationen, die satter sind. Und sie ärgern sich am meisten darüber, wenn andere Polen sie dafür kritisieren. Einige sagen, die Euro war ein Desaster. So eine Diskreditierung von Polen durch Polen, das ist unser größtes Laster. Woodstock ist ein Ort, wo wir uns von unseren Komplexen befreien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen