Onlineterror-Prozess: V-Mann spionierte in Dschihadszene
In München stehen sieben Männer und eine Frau vor Gericht. Sie sollen Propaganda für al-Qaida verbreitet haben - ein Ex-Mitstreiter spionierte für den Verfassungsschutz.
MÜNCHEN/BERLIN taz | Es ist das bisher größte Verfahren gegen mutmaßliche Online-Terrorhelfer in Deutschland. Sieben Männer und eine Frau im Alter von 18 bis 30 Jahren stehen seit Dienstag in München vor Gericht.
Sie sollen die inzwischen abgeschaltete "deutsche Sektion" des mit al-Qaida sympathisierenden Propagandanetzwerks "Globale Islamische Medien-Front" (GIMF) betrieben und dazu Videos produziert, übersetzt und verbreitet sowie Texte geschrieben haben. Manche der ins Netz gestellten Videos zeigten laut Anklage Gräueltaten wie das Köpfen von Geiseln.
Obwohl die Anklageschrift 462 Seiten lang ist, sah es zu Beginn so aus, als könnte es ein kurzes Verfahren werden. Der Vorsitzende Richter des 6. Strafsenats am Oberlandesgericht München, Manfred Götzl, ging die Hauptverhandlung zügig an. Doch schon am zweiten Tag, am Mittwoch, knallte es: Rechtsanwalt Mutlu Günal, der einen der jüngsten Angeklagten vertritt, thematisierte die mögliche Verstrickung eines V-Manns des Bundesamts für Verfassungsschutz.
Aus Anführer wird V-Mann
Es geht um den aus Serbien stammenden Irfan P. Er war ursprünglich der neunte Beschuldigte im Ermittlungsverfahren gegen die GIMF und galt als Anführer der "deutschen Sektion", seit deren Begründer Mohamed M. im September 2007 in Österreich verhaftet worden war.
Doch das Verfahren gegen Irfan P. wurde schon vor Prozessbeginn eingestellt. Warum? Anwalt Günal hat einen Verdacht: Weil der heute 22-Jährige als V-Mann in der GIMF aktiv gewesen sein könnte, die Taten der Gruppe also gewissermaßen amtlich begleitet hätte. Dem ist nicht so, versichert der Verfassungsschutz.
Bestritten wird der Kontakt zwischen Amt und Islamist jedoch nicht - er soll aber erst nach dessen GIMF-Aktivitäten zustande gekommen sein, wie auch die Bundesanwaltschaft beteuert. Demnach wäre der Mann ein Seitenwechsler, aus welchem Grund auch immer.
Das Gericht zeigte sich von dieser Wendung überrascht. Nach dem Willen der Verteidiger sollen nun der Präsident des Verfassungsschutzes und der V-Mann-Führer als Zeugen gehört werden. Und auch der Senat hat durchblicken lassen, dass er diese Frage aufklären will.
Was den Medien bisher entgangen war: Vor drei Wochen hatte Irfan P. bereits einen Auftritt als Zeuge in einem Prozess in Berlin. Irfan P. erschien dort, um im Verfahren gegen den 21-jährigen mutmaßlichen Terrorhelfer Alican T. auszusagen, den er tatsächlich für den Staat ausspähte. Anfang 2010 wohnte er sogar einen Monat lang bei T.
Deckname "Musab, der Terrorist"
Im Prozess in Berlin berichtete Irfan P. auch über Kämpfer der "Deutschen Taliban Mudschahidin" im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet, die er bei seinen Berlinbesuchen getroffen habe. Einmal hätten sie in einer Gruppe auch Bilder von der Leiche eines Berliners im Internet angeschaut, der als Kämpfer in Wasiristan getötet wurde. Die Islamisten hätten "sich gefreut, weil er es geschafft hat, zum Märtyrer zu werden", so Irfan P.
Auf Nachfragen der Verteidigung kam im Berliner Prozess auch Irfan P.s eigene Vergangenheit zur Sprache. So räumte er ein, in Szeneforen als "Abu Musab al-Irhabi" unterwegs gewesen zu sein - "al-Irhabi" bedeutet "der Terrorist". Nach einigem Zögern gab Irfan P. auch zu, 2007 dem Fernsehsender RTL ein Interview gegeben zu haben, in dem er vermummt über die GIMF geredet haben soll. Das überraschte sogar die Vertreter der Bundesanwaltschaft, die das zum ersten Mal hörten, nach einer Prozesspause aber bestätigten, dass es das Interview gab.
Dass Irfan P. für den Verfassungsschutz arbeitete, wusste die Bundesanwaltschaft spätestens im September 2010, wie aus einem Schreiben des Verfassungsschutzes an die Karlsruher Anklagebehörde hervorgeht. Dort heißt es auch, dass P.s Einsatz in der Berliner Dschihadistenszene strikt darauf begrenzt gewesen sein soll, passiv Informationen zu sammeln. Wann genau er aber anfing, für den Staat zu spionieren, blieb auch im Berliner Prozess offen.
Holger Schmidt ist ARD-Terrorismusexperte und mit taz-Redakteur Wolf Schmidt weder verwandt noch verschwägert. Er blogt unter: www.swr.de/blog/terrorismus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften