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Ohne Winterreise und Müllerin

■ Olaf Bär und Helmut Deutsch präsentierten in der Glocke einen Schubertabend, an dem seltene Lieder und Experimente zu hören waren

Unter all den Vergnügungen des E-Musikbetriebes gehört der Besuch eines Liederabends zu den größten Zumutungen und zu den größten Verlockungen zugleich. In den 70er Jahren mag der westdeutsche Musikfreund bemerkt haben, daß sich im anderen deutschen Staat eine Alternative zur exaltierten Kunstliedgestaltung etabliert hat. Das Lied als Miniatur, die schnörkellos und klar vorgetragen ihre lyrische oder hochdramatische Wirkung im Kopfe des Hörers, und nicht als komprimierte Oper in Kehlkopf und Mimik des Liedgestalters, entfaltet. Schubert, durch die Brille des mit kühlem Verstand und heißem Herzen gesegneten Hanns Eisler gesehen, vielleicht.

Daß Schubert vor 200 Jahren das Licht der Welt nicht nur mit tränengefüllten Augen erblickte und daß das „Kunstlied“nicht nur theatralisch konzertierter Ausdruck eines suspekten auf Innerlichkeit gerichteten Kunstwillens ist, konnte man am Samstag abend in der Glocke erfahren. Olaf Bär, in der DDR und ihrer Musiktradition zu Weltniveau gereift, präsentierte mit seinem Begleiter am Piano, Helmut Deutsch, einen Schubertabend ohne Winterreise und Müllerin. Ein nicht unbedingt auf innere Geschlossenheit setzendes Programm, das uns mit selten zu hörenden Liedern durch Schuberts frühe Experimente führt bis zur hochdramatischen Ballade (Schillers Bürgschaft). Sie weckte auch durch Bärs Präsentation nostalgischer Reminiszenzen an vergnügliche Deutschstunden und leitete hin zur stadtflüchtigen Naturbetrachtung.

Klangmalerisch verzücktes Wühlen mit Goethe im Wuschelkopf der Geliebten, waren ebenso zu hören, wie Johann Mayerhofers banger, vom verklingenden Kuhglockengeläute begleiteter Heimweg aus den Bergen in den entfremdeten, durch Restauration geprägten Alltag der Donaumetropole. Neben witzigen Transformationen der Textvorlagen in musikalische Bewegung standen kleine Meisterstücke, in denen der Komponist konzentriert um die Tiefenschichten des Textes ringt.

Olaf Bär und Helmut Deutsch entpuppten sich an diesem Abend als „Dream-Team“. Mit überlegt und behutsam eingesetzten gestalterischen Mitteln schufen sie für jedes Lied die ihm eigene Stimmung und ermöglichten uns, uns in die Räume zu denken und zu fühlen, in die das jeweilige Lied gehört. Im Wirtshaus bei einsetzender Trunkenheit, auf dem Berge bei Sonnenuntergang, auf dem Wege zur Arbeit, auf der Vorstadtbühne oder im stillen Kämmerlein zu singen: so könnten die Regieanweisungen des Komponisten gelautet haben, die die beiden getreulich umgesetzt haben.

Nur zuweilen wäre zu wünschen gewesen, daß Olaf Bär seinen zauberhaften Vibrato in höheren Lagen bei „naiven“Liedern zugunsten eines eher lakonischen Vortrags verleugnet hätte. Dies hätte noch besser zu dem auf Durchsichtigkeit und Präzision setzenden Stil seines aufmerksamen Begleiters gepaßt. Dem sehr heftigen Applaus des nicht gefüllten Glockensaales begegneten die Künstler mit kurzem Ausflug in vertrautere Schubert-Gefilde. So durften wir abschließend noch erleben, wie der Musensohn die Forelle frißt und unter allen Wipfeln die verdiente Mittagsruhe findet. Mario Nitsche

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