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n präimplantationsdiagnostik (pid). taz-leserInnen diskutieren das für und widerOhne PID existierte ich nicht

betr.: „Freiheit der Erkenntnis“ von Bernhard Becker, taz vom 8. 6. 01

Das neue Abtreibungsrecht von 1995, die PID, das Klonen – alles Ausflüsse eines Zeitgeistes, der im Zuge der Durchsetzung der neoliberalen Globalisierung einem extremen Utilitarismus huldigt. Wer keine Leistung bringt, wird aussortiert – vorgeblich zugunsten der (wirtschaftlichen, individuellen) „Freiheit“, de facto zugunsten eines lockeren, konsumverwöhnten Lebens (Hedonismus) und zugunsten immer größerer Profite (Kapitalismus). Wie groß ist die vom naiven Autor so beschworene „sittliche Autonomie“ (= Freiheit) in einem Gesellschaftssystem, das seine Glieder rastlos und mit massivem Druck (vgl. „Faulenzer“- und „Sozialschmarotzer“-Debatten; Aussagen wie „Ein behindertes Kind muss doch heute nicht mehr sein“ usw.) zu größtmöglichem Nutzwert antreibt und das Lebensrecht an den gesellschaftlichen Nutzen koppelt?

Der Sozialdarwinismus, der in den Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts seine Blütezeit hatte, feiert jetzt in anderem Gewande, auf „demokratische Weise“ fröhliche Urständ.

MICHAEL KRAUS, Würzburg

[...] PID wird kommen, was auch immer die Abgeordneten des Deutschen Bundestages beschließen; mit einem Verbot könnten sie höchstens erreichen, dass PID ein Vorrecht derer bliebe, die sich eine Reise ins Ausland leisten können. Auf jeden Fall werden in 15 oder 20 Jahren Menschen unter uns leben, die uns etwa Folgendes sagen könnten: „Mein älterer Bruder (oder meine ältere Schwester) ist schwerbehindert. Meine Eltern wussten, was es heißt, ein Kind mit dieser Behinderung zu haben. Sie wären nicht bereit gewesen, das Risiko einzugehen, ein weiteres Kind mit der gleichen Behinderung zu bekommen. [...] Erst durch PID bekamen meine Eltern die Möglichkeit, den Mut zu einem weiteren Kind. Ohne PID wäre ich nicht auf der Welt.“

[...] Es gibt andere Argumente für die Zulassung von PID. Das wichtigste ist die Solidarität mit Eltern, die ein schwerbehindertes Kind haben und sich ein weiteres Kind wünschen. Ihren dringenden Wunsch, dass dies Kind gesund sein möge, kann ich nur zu gut verstehen. Mein zweites Kind ist schwerbehindert.

IRENE NICKEL, Braunschweig

Auch ich habe ein behindertes Kind und würde alles dafür geben, wenn ich es vorher gewusst hätte. Ich hätte mich informieren und etliches anders machen können. Meine Tochter leidet an einer sehr seltenen Krankheit: Pankreatektomie. Ihre Bauchspeicheldrüse produziert zu viel Insulin, daraus folgen Zuckertiefs, die bereits Gehirnschäden hinterlassen haben. Wenn ich es vorher gewusst hätte, hätte ich der gesamten Familie (inklusive zwei Geschwisterkindern) viel Stress erspart.

Ich weiß nicht, ob ich abgetrieben hätte, das kann und will ich nicht sagen. Aber ich hätte sicher mehr gewusst, und wenn es genmäßig möglich gewesen wäre, „Tut was!“ geschrien. Auch wenn es mal möglich wird, Organe aus körpereigenen Stoffen zu „erzeugen“, werde ich schreien. Das ist nämlich nun unsere einzige Hoffnung. Eine neue Bauchspeicheldrüse für unsere Tochter ohne irgendwelche Abstoßungsmechanismen.

Ich wünsche jedem Gegner einen Tag mit einem schwer behinderten oder kranken Kind. Vielleicht würde man dann mehr den Eltern überlassen. CRISTINA DIAS, Estoril, Portugal

Hier wird ein offensichtlich wenig bekanntes Grundgesetz der Ethik deutlich demonstriert: Ein kleiner Verstoß zu Beginn führt unweigerlich zu immer größeren und letztlich unlösbaren Problemen, was konsequenterweise zur Negierung jeglicher Ethik führen muss. Die Parallele zur Kernenergie ist offensichtlich und kein Zufall.

Überzeugte Atheisten können ausschließlich philosophisch-ethische Kritieren abwägen und zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Für Agnostiker müsste zusätzlich das Prinzip Vorsicht gelten, und zwar die Vorsicht, dass es Gott vielleicht doch gibt. GÖTZ NIEMANN, Glückstadt

Bernhard Becker kümmert sich in seinem Kommentar zur Präimplantationsdiagnostik um diesbezügliche Argumentations- bzw. Begründungsweisen. Seine eigene Argumentation beginnt er mit einer Analogie, die ich zwar für recht suggestiv, aber auch für irreführend halte: Freitags gezeugte Menschen könnten sich von einem (kirchlichen) Gebot, „an jedem Freitag auf den Geschlechtsverkehr zu verzichten“ in ähnlicher Weise betroffen fühlen wie Behinderte von einer Erlaubnis der Präimplantationsdiagnostik.

Selbstverständlich gibt es Sichtweisen und Verständnisse, die diese Analogie einsehbar erscheinen lassen; aber die Sichtweise, die der Betroffenheit Behinderter angesichts einer möglichen Erlaubnis der Präimplantationsdiagnostik zugrunde liegt, ist mit dieser Analogie nicht verträglich. Während die Freitagszeugung als Kriterium nicht die späteren Personen betrifft, tut das das Kriterium genetischer „Defekte“ sehr wohl. Denn es sind ja nicht die genetischen Strukturen, die gegebenenfalls stören, sondern die behinderten Menschen. Die Qualitäten eines geborenen Menschen sind es also, die hier nach wünschenswert oder nicht sortiert werden!

So etwas lässt sich auf zwei Weisen rechtfertigen: eher egoistisch oder eher altruistisch. Die erste Weise, solche Menschen störten nur die Gesellschaft, wird wohl kaum offen vertreten. Die altruistische Rechtfertigung, solche Menschen hätten doch nichts von ihrem Leben, wirkt dagegen aber auch recht überheblich, gerade wenn sie von jemandem geäußert wird, der gegen die Betroffenheit Behinderter in dieser Sache polemisiert: er setzt sich doch arg dem Verdacht aus, bestimmte andere Menschen nicht als gleichwertig zu achten. PETER MENGEL, Ulzen

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.

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