■ Buchtip: Ohne Denkschablonen
Ein Mädchen bringt regelmäßig Essen aus Mutters Garküche in Hanoi zur Großmutter. Diese lebt in einer fensterlosen Dachkammer: „Sonntags besuche ich Oma in ihrer Dachkammer ohne Fenster, es gibt nur ein Luftloch, einen fehlenden Ziegelstein über Opas Altar, damit Opa ein bißchen Frischluft bekommt.“ Das Mädchen trägt ihrer Großmutter Menüvorschläge vor. Immer in Sorge, sie könnten der Großmutter nicht genügen, da sie einst Köchin in einem Mandarinhaushalt war.
„Sonntagsmenü“ ist eine von elf Erzählungen in Pham Thi Hoais Buch mit dem gleichen Titel. Die Geschichten spielen ausschließlich in Hanoi. Hervorzuheben ist die monologische Erzählweise mit knappem lakonischem und ironischem Ton. Insbesondere die ersten fünf Erzählungen des Bandes beschreiben ein Leben in einem Land des Umbruchs aus der Sicht der jungen Ich-Erzählerin, ein bißchen beklemmend und dennoch humorvoll.
Grenzüberschreitend werden die Erzählungen durch den gekonnten Einsatz ästhetischer und sprachlicher Mittel aus der europäischen Literatur. Sie zeigen deutlich, daß Pham Thi Hoai von Kafka, Dürrenmatt und Grass inspiriert ist und deren Erzählweise und Sprache für ihr eigenes Schreiben entdeckt hat. Seit sie zum Studium nach Berlin geschickt wurde, ist die deutsche Literatur ein Teil ihres Schaffens geworden. So wie sie für ihr Schreiben eine neue Form der Verknüpfung verschiedener Traditionen gewählt hat, so habe sie auch eine bessere Form für das Leben mit ihrem deutschen Mann gefunden, erzählt Pham Thi Hoai. Heute leben sie gemeinsam abwechselnd in Berlin und in Hanoi. Sie bezeichnet beide Städte als ihre Heimatorte. Doch, so korrigiert sie sich selbst, sie könne sich genauso als heimatlos bezeichnen.
Mit dem Rückgriff auf europäische Darstellungsmittel schafft sie eine wohltuende Distanz zur beschriebenen Wirklichkeit in Hanoi. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Erzählungen ihre Ablehnung der sehr doktrinär wirkenden vietnamesischen Klassik. Die ästhetischen und sprachlichen Mittel, die sie aus der Auseinandersetzung mit der europäischen Literatur gewinnt, erlauben ihr, von den Brüchen in der vietnamesischen Realität zu erzählen, ohne gleich über den „rechten Weg“ Auskunft zu geben. Nur konsequent, daß der Autorin, die zu den vier bedeutendsten oppositionellen Schriftstellern Vietnams gezählt wird, die Zuordnung als Dissidentin peinlich ist. Es zähle nur, ob sie als wirklich gute Autorin geschätzt werde, erklärte sie in einem Interview. Ob man sie für feige, mutig oder kritisch hält, dies sei eine ganz andere Sache. Mechtild Maurer
Pham Thi Hoai: „Sonntagsmenü“. Aus dem Vietnamesischen von Dietmar Erdmann, Unionsverlag, Zürich 1995, 208 S., 16,80 DM
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