piwik no script img

Ökonom über Armut in Südamerika"Wer überlebt, kann nicht dumm sein"

Slum-Bewohner verfügen über Kreativität, Kooperationsfähigkeit und Solidarität, sagt der Ökonom Manfred Max-Neef. Das gelte es zu nutzen, um ihre Lage zu verbessern.

Ohne sie würde das Wirtschaftssystem kollabieren: Bewohner in La Pedrera, einem der ärmsten Slums der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Bild: ap
Interview von Annette Jensen

taz: Herr Max-Neef, was haben Sie in den Slums gelernt?

Manfred Max-Neef: Es gibt kaum eine andere Umgebung, wo es so viel Kreativität gibt wie in der Armut. Wenn es ständig darum geht zu organisieren, dass man irgendwie überlebt, kann man nicht dumm sein. Man muss überlegen, wohin man geht, mit wem man was tauscht, organisiert, produziert. Das schafft Kooperationen und Solidarität.

Armut ist positiv, weil sie Werte und Fähigkeiten fördert?

Bild: Oria Connolly
Im Interview: 

MANFRED MAX-NEEF, 77, ist Ökonom und Professor in Berkeley. Er war aktives Mitglied im Club of Rome und erhielt 1983 den Alternativen Nobelpreis. Zehn Jahre lang forschte er in Armutsgebieten.

Ich idealisiere die Sache nicht. Was ich nur sage, ist: In der Armut kann man nur mit diesen Werten überleben - Werte, die in der großen Ökonomie verloren gegangen sind. Ziel muss es sein, diese Werte und eine bessere Lebensqualität zu verbinden.

Wie soll das gehen?

Jeder Mensch hat verschiedene Anlagen, die unterschiedlich einsetzbar sind. So kann jemand mit guter Feinmotorik Porzellan bemalen, in einem Labor arbeiten oder, oder. Wenn man die Armut überwinden wollte, müsste man als Erstes herausfinden, welche Talente es gibt. Stattdessen heißt es: Was machen wir mit diesen Arbeitslosen? Von außen wird ihnen dann ein Programm zur "Capacity Building" übergestülpt und die Leute sollen Friseur oder Techniker werden. Aber so funktioniert das nicht. Die Ökonomen haben keine Ahnung, welcher Reichtum in der Armut steckt.

Welchen Grund vermuten Sie hinter einer solchen Ignoranz?

Wenn es keine Armut geben würde, würde unser aktuelles Wirtschaftssystem sofort kollabieren. Nehmen Sie eine Firma wie beispielsweise Nike. Die lassen in Ländern mit extrem niedrigen Löhnen produzieren - und wenn es dort ein bisschen teurer wird, wandern sie weiter. Die Produktionskosten liegen vielleicht bei 5 bis 6 Dollar - verkauft werden die Schuhe dann für 135 Dollar. Der IWF, die Weltbank, alle behaupten, dass sie die Armut überwinden wollen. Aber sie lügen. Die Armut muss bleiben, weil sich nur dann gute Geschäfte machen lassen.

Was schließen Sie daraus?

Was heute in den Wirtschaftswissenschaften an den meisten Universitäten gelehrt wird, hat überhaupt nichts mit der wirklichen Welt zu tun. Sie stammt aus der Neoklassik des 19. Jahrhunderts. Damit wollen wir die Probleme des 21. Jahrhunderts lösen?!

Wie aber kann man dieses System brechen?

Es ist ausgeschlossen, dass es noch Jahrzehnte so weitergehen wird. Im Oktober 2008 ist es ja im Grunde bereits kollabiert, aber die Politiker haben das noch nicht verstanden. Beim nächsten Crash wird es noch viel schlimmer, und ich erwarte, dass der bald kommt.

Prognostizieren oder wünschen Sie das?

Beides. Obwohl es ja schrecklich ist, sich etwas Schlimmes zu wünschen und es für die Armen noch katastrophaler werden wird als für die Reichen. Aber sonst kann kaum etwas Neues wachsen.

Einer Gegenbewegung trauen Sie nicht zu, allmählich umzusteuern?

Es gibt schon Abertausende lokaler Initiativen und Gruppen, die anders wirtschaften und leben wollen, die Gifte und Ausbeutung vermeiden - das wächst und wächst. Das Problem ist, dass man diese Gegenmacht nicht klar sieht und fühlt, so wie ein Immunsystem gegen Krankheiten. Aber ich bin optimistisch, dass die Wirtschaft der Zukunft besser sein wird als die der Gegenwart.

Wie sollte sie aussehen?

Auf jeden Fall kleinteiliger und regionaler. Und folgende Grundsätze müssen beachtet werden: Die Ökonomie soll dem Menschen dienen, nicht umgekehrt. Kein wirtschaftliches Interesse kann wichtiger sein als die Verehrung des Lebens. Zugleich ist die Wirtschaft darauf angewiesen, dass die Ökosysteme ihre Güter zur Verfügung stellen. Weil die Biosphäre ein endliches System ist, ist unbegrenztes Wachstum unmöglich. Wachstum ist außerdem nicht dasselbe wie Entwicklung.

Wird in den reichen Ländern der Lebensstandard sinken?

Im Gegenteil, unser Lebensstandard wird besser sein. Warum brauchen wir mehr und mehr Konsum? Jeder sollte mal eine Liste machen mit den Dingen, die er wirklich braucht - und denen, die im Grunde überflüssig sind. Welche Liste wird wohl länger sein?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

2 Kommentare

 / 
  • MR
    Meinolf Reul

    Absolut lesenswert. In der Wirtschaftsberichterstattung der mir bekannten Zeitungen und Medien wird immer von innerhalb des (noch) bestehenden Systems (Kapitalismus) argumentiert - das ändert sich aber langsam -, und hier ist nun wieder einmal ein erfrischendes Beispiel von Leuten, die sich das ökonomische Leben auch ganz anders vorstellen können. Es ist betrüblich, daß ein grundlegender Wandel nur auf Grund eines Zusammenbruchs, vielleicht eines Krieges (auch in Europa), erfolgen wird. Immerhin besteht die Hoffnung, daß die nachfolgenden Menschen klüger sein werden als wir, die wir den Scheiß wohl oder übel mit am Leben erhalten.

  • J
    jzv

    "Befriedete Favelas in Rio jetzt im Imobilien Boom" (Gestern - Titelseite der erz-konservativen "O Estado de Sao Paulo): Die Miete eines Hauses mit einem Bad ist jetzt von 100 auf 200 Euros gestiegen. Auserdem muss jetzt fuer Elektrizitaet, Wasser, TV und Kabel bezahlt werden. Zementsaecke werden bis Mitternacht zu weiteren bauen die Berge hinauf geschleppt,besonders in Lagen mit Sicht auf den Strand. Grund: Jede der "befriedeten Favelas" hat jetzt hunderte von Polizisten welche die Kriminellen verjagt haben. Der peruanische Wirtschaftler Hernando de Soto, hat schon vor Jahren die Wirklichkeit verkuendet: Jedes Haus in einem "Elendsviertel" hat einen Handelswert - besonders nach Einfuehrung moderner Grundbuchregistrierung durch die Regierungen.