piwik no script img

■ ÖkolumneMediengerechter Ökounfall Von Annette Jensen

Ganz Deutschland starrt nach Norderney und St. Peter-Ording. Da, wo im Sommer die lieben Kleinen buddeln – „demnächst ein totes Giftland?“ fragt die Bild-Zeitung. Seit einer Woche marschieren Helfer mit Gasmasken vor dem Gesicht nun schon die Strände entlang, und seit Tagen traben die Kamerateams und Reporter hinter ihnen her. Am Montag fanden sich denn auch zwischen dem Unrat, der jeden Tag angeschwemmt wird, kleine Teile der Ladung des französischen Schiffes Sherbro, das im Dezember 88 Container verloren hatte. Von Giftkatastrophe ist die Rede – obwohl bisher außer ein paar Vögeln in Holland noch keine Opfer zu beklagen sind.

Ohne Zweifel: Platzt eine Tüte, ist der Sand in der Umgebung verseucht und muß entsorgt werden. Und es ist alles zu tun, damit im nächsten Sommer kein Kind beim Burgenbauen einen Beutel mit Gift in die Finger bekommt. Es macht also Sinn, daß die Kurverwaltungen und Ordnungsämter ihre Leute an den Strand schicken und das Gebiet zunächst für Touristen sperren. Aber warum diese Journalisteninvasion?

Dafür gibt es gleich mehrere Gründe. Zum einen: „Unsere schöne Nordsee“ (Bild) ist betroffen – gemeint ist ausschließlich die deutsche Küste. Als kurz nach dem Containerverlust in Frankreich gefährliche Zünder angeschwemmt wurden, war das fast keiner deutschen Zeitung mehr als einen Foto: Heinrich Drach

Fünfzeiler wert.

Und auch die 220.000 Pestizidtoten im Jahr, von denen die Weltgesundheitsorganisation WHO ausgeht, interessieren hier fast niemanden. Sie sterben schließlich meistens nicht bei uns, sondern fast alle in der sogenannten Dritten Welt.

Zum zweiten: Es handelt sich um einen Ökounfall mit mediengerechten Vorteilen. Im Gegensatz zu den meisten Verdreckungen, Verpestungen und Vergiftungen sind die Beutelchen am Strand unmittelbar und nicht nur durch ihre Folgen sichtbar. Die Plastikhülle macht, solange sie hält, das Problem genau lokalisierbar – Ökodesaster zum Anfassen. Endlich ein Umweltproblem, bei dem nicht schleichende, scheinbar unaufhaltsame Prozesse beobachtet werden müssen, bei dem nicht über Grenzwerte gestritten werden muß und abstrakte Meßwerte zu übersetzen sind. Und man kann etwas dagegen tun: Beutel geborgen, Problem gelöst. Daß das Gift aus geplatzten Säckchen die Lebewesen im Watt schwer schädigen kann, spielt in den meisten Beiträgen allenfalls eine Pflichtrolle.

Was im Meer bleibt, hofft man, wird sich schon verteilen und verdünnen. Und so ist es wohl auch. Die Nordsee muß permanent weit größere Mengen an Gift aufnehmen als die Menge aus den havarierten Containern. Allein der Rhein transportiert jährlich mehr als zehnmal soviel Pestizide ins Meer. Der Vorteil für unser Gewissen und die Ursache des geringen Medieninteresses an diesem Problem liegt darin, daß sich hierbei nicht die unmittelbare Erfahrung machen läßt: So viel hält das Ökosystem Meer aus, und etwas mehr ist tödlich. Auf Äcker und Schrebergartenbeete sprühen die Deutschen jährlich vier- bis fünftausendmal soviel Unkraut- und Insektenkiller, wie jetzt verlorengegangen sind. Das für Nigeria bestimmte Apron ist allerdings nicht dabei. Es ist hierzulande verboten – wie viele andere besonders gefährliche Pestizide auch. Derartige in Deutschland hergestellte Mittel steigern zwar unser Bruttosozialprodukt, vergiften aber normalerweise nur Leute in anderen Weltregionen.

Ein weiterer Vorteil der angeschwemmten Tütchen: Wir brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben. Die Beutel tragen einen Absender: Ciba-Geigy, und das ist ein Schweizer Unternehmen. Das wird nicht nur die deutschen Chemiekonzerne freuen, die vor kurzem bei einer Umweltstudie sehr viel schlechter abschnitten als die Konkurrenz aus Basel. Es macht die Täter konkret: die Schweizer Giftmischer, ein französischer Reeder und die Nigerianer als Empfänger – kurzum, die anderen verseuchen „unsere schöne Nordsee“. Wir sind die Opfer. Die ganz normale Giftsauce vor der Küste hingegen ist in ihrer Zusammensetzung und Gefahr undefinierbar. Und die Verantwortung damit auch.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen