■ Ökolumne: Grenzwert Von Benny Härlin
Daß man aus Bächen nicht trinken darf und in Flüssen nicht badet, daß Regen sauer ist und Pfützen ölig schillern, haben wir gelernt. Innerhalb einer einzigen Generation wurde uns zur Selbstverständlichkeit, was allen vorangegangenen Generationen der Menschheit schlicht undenkbar war: Wasser, wo es uns in der Natur begegnet, erst einmal Giftigkeit zu unterstellen.
Selbst in seiner aufbereiteten Form als Trinkwasser beginnen wir ihm zu mißtrauen. Nur noch zehn Prozent aller Kölner trinken Wasser direkt aus der Leitung. Die Mehrheit behilft sich mit Mineralwasser. Dabei wird ironischerweise die Belastung durch Pestizide in Mineralwasser weniger scharf kontrolliert als bei Leitungswasser. Der Werbemythos von der Reinheit aus der Tiefe, mit dem das simple Glas Wasser als Naturerlebnis verkauft wird, ist Indiz der Entfremdung vom Selbstverständlichen.
Er markiert präzise die derzeit letzte Front industriellen Verschmutzungs- und Aufbereitunsanspruchs. Darf Grundwasser, zuweilen älter als alle menschliche Zivilisation, künftig nach den eingespielten Regeln staatlich festge-Foto: Dietmar Gust/Zenit
legter Höchst-
werte vergiftet werden oder nicht? Seit Monaten tobt deshalb ein zähes Ringen um Trinkwasser- und Pestizidrichtlinien der EG. Umweltschützer und Wasserwerke treten an gegen den mächtigen „Industrieverband Agrar“ (IVA), beherrscht vom IG-Farben-Trio Bayer, BASF und Hoechst, die gemeinsam ein gutes Viertel des Welt-Pestizidmarktes beherrschen, verstärkt durch den Weltrangersten Ciba-Geigy.
Objekt des Streites ist der Parameter Nr. 56 der EG- Trinkwasser-Richtlinie aus dem Jahre 1980. Er legt fest, daß der Pestizidgehalt von Trinkwasser 0,1 Mikrogramm pro Liter nicht übersteigen darf. Das war seinerzeit der technische Ausdruck dafür, daß Pestizide überhaupt nicht ins Trinkwasser gehören. Die EG-Minister hatten damals wohl ein wenig zu ernst genommen, was der Pflanzenschutzleiter der Bayer AG, Walter Ernst, noch im Jahre 1991 beteuerte: „Unsere Pflanzenschutzmittel haben im Trinkwasser nichts zu suchen. Deshalb werden von uns nur solche Wirkstoffe entwickelt, die diese Anforderung erfüllen.“
Tatsächlich? Nur drei Jahre später konstatiert Klaus Deichner, Pflanzenschutzchef der BASF und Sprecher des IVA: „Bei 30 bis 50 Prozent der in der EG zugelassenen Pflanzenschutzmittel ist eine Überschreitung des EG-Trinkwasser-Grenzwertes im Grundwasser zu erwarten beziehungsweise nachgewiesen worden.“ Deshalb müßten „toxikologisch begründete, wissenschaftliche Grenzwerte“ den unwissenschaftlichen Pauschalwert der „Nullwert-Ideologen“ ersetzen. Für jedes Pflanzengift sei festzulegen, wieviel dem Bürger hiervon ins Trinkwasser gemixt werden kann.
In der Tat kann die Human-Toxikologie aus der standardisierten Vergiftung von Ratten mit einzelnen Wirkstoffen plausibel ableiten, daß dem Durchschnittsmenschen (gesund, erwachsen, 70 Kilo) keine unmittelbare Gefahr droht, wenn sein Trinkwasser künftig ein wenig vergiftet wird. Über Langzeitwirkungen, gar von Wirkstoffkombinationen, oder die Auswirkung auf nicht standardisierte Organismen kann diese Art von Wissenschaft kaum etwas aussagen. Zumal sie niemand dafür bezahlt. Die moderne Naturwissenschaft kann eindeutige Kausalitäten nur aus der Isolierung einzelner Phänomene ableiten. Das setzt generell enge Grenzen für ökologische Bewertungen und erklärt, warum die zulässige Tagesration für das Pestizid Atrazin in den vergangenen Jahren um den Faktor 10 nach oben und unten schwankte: Die Wissenschaft schreitet eben unaufhaltsam voran. Schade nur, daß einmal mit Atrazin verseuchtes Grundwasser Erkenntnissprüngen nicht mehr folgen kann.
Den übelsten Verächter des Fortschritts beschreibt der Bayer-Pflanzenschützer Jochen Wulff: „Otto Normalverbraucher steht nicht in der Materie, das Ganze ist ihm viel zu kompliziert. Das Risiko, das mit Rückständen unserer Produkte im Grund- und Oberflächenwasser verbunden ist, kann er selbst nicht einschätzen, aber im Prinzip lehnt er jedes Risiko ab.“
PS: Der letzte Vorschlag der EG-Kommission zur Novellierung der Trinkwasser-Richtlinie: Der 0,1-Mikrogramm-Grenzwert bleibt erhalten, wird jedoch von einem Komitee fortlaufend dem neuesten „Stand von Wissenschaft und Technik“ angepaßt ...
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