■ Oekolumne: Mehr vom Meer Von Reiner Wandler
Europa entdeckt sein Meer. Das Mittelmeer als gemeinsamer politischer Raum, in dem es gilt, für Stabilität zu sorgen. Das Mittelmeer als gefährlicher Krisenherd, ein Durcheinander der Kulturen am Rande des permanenten Bürgerkrieges. Oder ganz das Gegenteil: das Mittelmeer als Hort der Toleranz zwischen Religionen und Kulturen. Das Mittelmeer als gemeinsamer Wirtschaftsraum, eine gigantische Freihandelszone von morgen. Oder einfach nur: das Mittelmeer als Südgrenze Europas, die es abzuschotten gilt, damit nicht jeder Hungerleider einfach so hier ins europäische Haus spaziert. In all diese Rollen wird das Mare Nostrum – wie es einst die Römer nannten – ab Montag auf der gemeinsamen Konferenz der Anrainerstaaten und EU-Mitglieder in Barcelona schlüpfen. Nur eine spielt es nicht: die eigentliche als Meer.
Noch auf dem EU-Gipfel in Cannes stand in Sachen Kooperation am Mittelmeer der Umweltschutz ganz oben auf der Wunschliste. Heute, nur ein halbes Jahr später, ist das alles vergessen. In Barcelona treffen sich die Außenminister, ihre Kollegen vom Umweltschutz bleiben zu Hause. NGOs mit Beobachterstatus und Vorschlagsrecht, wie neuerdings immer öfter auf internationalen Treffen üblich, gibt es nicht. Da muß wohl künftig schon eine Algenplage mit Bettenstornierungen her, um das Meer als solches zum Thema zu machen – das sprachlose Meer. Nur wo sie zum Fall für überfüllte Amtsgerichte wird, scheint die mediterrane Wasserqualität zu interessieren. Überall, von Gibraltar bis an den Bosporus, gilt die gleiche Philosophie. Die Strände den 100 Millionen Touristen pro Jahr – das perfekte Urlaubsparadies Meer –, und ansonsten dreht man dem großen Gewässer den Rücken zu – das ungeliebte Meer – und kippt alles rein, was anfällt: die Müllkippe Meer, in die 70 bis 80 Prozent der Abwässer der 132 Millionen Küstenbewohner ungeklärt fließen. Ganze Meeresteile drohen Sommer für Sommer biologisch zu kippen – der verdreckte Tümpel Mittelmeer.
Die Folge: „Der alte Mann und das Meer“ ist auch für das Mittelmeer nichts weiter als nostalgische Literatur. Längst fährt er nicht mehr hinaus auf See, sondern sitzt betrübt am Ufer. Der Fischfang, traditioneller Broterwerb der Küstenbevölkerung, liegt darnieder. Denn was in der trüben Brühe überlebt, wird von den großen Fangflotten der nördlichen Anrainerstaaten, allen voran Spanien und Italien, abgefischt – das Mittelmeer als leeres Meer. Die Flotte fährt indes schon weiter. Mit Geldern aus Brüssel werden denen auf der anderen Seite kurzerhand die Fangrechte abgekauft. Daß die viel gefürchtete Emigration von der anderen Seite des Lebensraumes Mittelmeer auch etwas mit der Zerstörung traditioneller Einnahmequellen zu tun hat – da liegt ja gottlob ein Meer dazwischen.
Nur für Güter und die Energieversorgung ist das Mittelmeer offenes Meer. Gaspipelines, Erdölbohrungen und rege Handelsbeziehungen – Meere verbinden. Doch auch hierfür zahlt das Ökosystem Meer. Jährlich muß es 635.000 Tonnen Rohöl ertragen. Dies entspricht einem Fünftel der Erdölmenge, die weltweit bei Förderung und Transport des schwarzen Goldes verlorengeht. Das Mittelmeer, der Binnensee im zusammenrückenden Wirtschaftsraum, bringt es später wieder an den Tag. Jeden Morgen müssen unzählige Strände hochglanzprospektweiß poliert werden, noch bevor die Touristen – verkatert von mediterraner Lebensfreude – wieder auf den Beinen sind. Das blaue Meer als Freizeitindustrie für sonnenhungrige Nordeuropäer. Das muß funktionieren wie geschmiert. Zu viele leben von diesem Geschäft.
Wohin die Reise für das Mittelmeer geht? Die Delphine verraten es. Immer seltener werden die verspielten Begleiter der Fährschiffe. Für die, die den alten Sagen Glauben schenken, ein deutliches Zeichen. So standen die Meeressäuger in den antiken Mythen der Mittelmeervölker für die Wanderung der Seelen ins Jenseits. Wenn die Anrainerstaaten nicht umdenken, wird das Mare Nostrum diese Reise bald antreten. Das wäre dann zugleich seine traurigste Rolle: das Mittelmeer als totes Meer.
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