■ Ökolumne: Große Geschichte Von Michael Müller
In der Bundesrepublik herrscht Stillstand. Die Erstarrung legt sich wie Mehltau über alle Bereiche und entfaltet eine lähmende Kraft. Auch im Rückblick früherer Jahrzehnte war keine Etappe mit dem heutigen Zustand konservativer Versteinerung vergleichbar. Es scheint so, als hätten wir eine Demokratie, die der Demokratie entsagt hat.
In den 60er Jahren sagte Herbert Marcuse voraus, daß „die spätkapitalistische Gesellschaft zwar die reichste und fortgeschrittenste der Geschichte sein und die größten Möglichkeiten einer befriedeten und befreiten menschlichen Existenz bieten könnte, aber gerade diese Möglichkeiten auf äußerst wirksame Weise unterdrückt“. Mit dem Anwachsen ungelöster Probleme sieht es so aus, daß sich diese Prognose erfüllt.
Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus verschmilzt die Welt noch schneller zu einem einzigen System von Märkten ohne Grenzen. Die Epoche globaler Vernetzungen löst die Ordnungsstrukturen auf, die politische Gestaltung, soziale Sicherheit und gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichten. Zeit und Raum verflüchtigen sich. Wir befinden uns auf dem Weg in eine Weltmarkt-Gesellschaft, die ihren Status auf Geld, Macht und Konsum aufbaut.
Im entfesselten Weltkapitalismus dominiert die bedingungslose Konkurrenz. Von daher sind in dieser neuen Welt Global Players nicht nur Motoren für Entdemokratisierung und Rückfall, sie sind auch Getriebene einer aus den Fugen geratenen Entwicklung. Ohne soziale und ökologische Regeln ist die Globalisierung McWorld und Jihad zugleich.
Es reicht nicht aus, das Treibenlassen zu beklagen und den Abwehrkampf gegen die Systemveränderer von rechts zu führen. Damit kommt die Linke nicht aus der Defensive heraus. Der Status quo ist nicht zu halten, die alte Ordnung ist dahin.
Neue Politikfähigkeit aber heißt, ein neues Modell von Fortschritt realitätstauglich zu machen. Man darf den Henkels, Stihls und Hundts das Feld nicht überlassen. Sie haben Reformen zu einem konservativen Kampfbegriff gemacht. Die Gehirne müssen klar sein. Deren Rentenreform ist Rentenkürzung, die Gesundheitsreform führt schnurstracks in eine Zweiklassenmedizin, und das, was sie Steuerreform nennen, ist die Plünderung der Arbeitnehmerkassen.
Die ökonomische Restauration über den Bundesrat zumindest zu erschweren, wie SPD und Grüne dies tun, hat nichts mit Blockade zu tun. Wichtiger ist jedoch eine Antwort auf die Verunsicherung der Menschen. Sie wissen, daß es so wie bisher nicht weitergehen wird. Wer dieses Lebensgefühl nicht aufgreift, wird nichts bewegen. Der Politikwechsel setzt den Kampf um die Köpfe voraus. Erst aus einer mutigen Alternative ergeben sich tatsächliche und nicht nur virtuelle Mehrheiten. Die politische Linke muß sagen, wie sie der neuen Welt soziale und ökologische Regeln geben wird.
Dabei geht es nicht um einige Teilkorrekturen, sondern um eine Grunderneuerung des westlichen Zivilisationsmodells. Die Krise der Erwerbsarbeit, die ökologischen Grenzen des Wachstums, der Zerfall der Gesellschaften und die kulturelle Verarmung hängen eng zusammen. Auf diese große Herausforderung muß auch eine große Antwort gegeben werden. Wie sieht die sozialökologische Umgestaltung des industriellen Wachstumsmodells aus, wie die solidarische Organisation der internationalen Ökonomie? Was sind die Leitbilder für die Modernisierung der europäischen Moderne, die sich auch anderen Kulturen öffnet?
Die europäische Zivilisation hat eine große Zukunftschance, wenn sie die zerstörerische Kraft aus der Aufspaltung zwischen Mensch–Ökonomie–Natur überwindet, die Gesellschaft als Einheit versteht und Wirtschaft und Technik sozial und ökologisch einbindet. Die Linke muß wieder eine große Geschichte erzählen, die Geschichte der sozialen und ökologischen Erneuerung Europas. Europa wird nicht gestärkt und auch nicht zusammenwachsen, wenn es nur um eine Bank herum gebaut wird.
Rio ist das Thema, an dem wir uns orientieren müssen. Zukunftsfähigkeit ist die Alternative zur ohnmächtigen Anpassung an den platten ökonomischen Globalismus. Diese Chance zu nutzen ist zuerst die Aufgabe der politischen Linken, auch bei uns in Deutschland und gerade im Wahljahr 1998.
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