■ Öffnung der Archive – Hauptergebnis der Washingtoner Konferenz: Zwei Arten, den Schlußstrich zu ziehen
Schlußstrich, das ist im deutschen ein Unwort, so es im Zusammenhang mit den Verbrechen der Nazis benutzt wird. Was Deutsche nicht können, das wollten die Amerikaner, einen Schlußstrich unter dieses „dunkelste Kapitel dieses Jahrhunderts“ ziehen, wie es im Aufruf zur am Donnerstag zu Ende gegangenen Holocaustvermögenskonferenz hieß. Sie meinen damit allerdings etwas anderes als in der Regel die deutschen Befürworter des Strichziehens.
Schlußstriche zieht man unter Rechnungen. Unter dem Strich steht eine Zahl. Nie wird sich das Unrecht der Nazis in Zahlen ausdrücken lassen, und doch sind Rechnungen offen. „Ist uns das Gedächtnis des Holocaust so heilig, daß wir es nicht wagen, über Geld und Versicherungspolicen zu reden?“ fragte Elie Wiesel bei der Eröffnung der Konferenz im Holocaust Museum. „Warum ist es uns 50 Jahre lang so schwer gefallen, über die Doppelnatur des Nationalsozialismus als Mord und als Raub zu reden?“
Kann Mord auch nie wiedergutgemacht werden, so läßt Raub sich doch zurückerstatten. Darum ging es bei der Washingtoner Konferenz, um jenen „materiellen“ Aspekt des Nationalsozialismus, der als einer der größten Raubzüge in die Geschichte eingehen wird. Und auf eine eigenartige Weise verbindet sich die materielle Aufrechnung des Holocaust mit dem erklärten Willen aller Beteiligten, die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Raubgut kann nicht identifiziert und seine rechtmäßigen Besitzer nicht gefunden werden, wenn Archive geschlossen bleiben. Die Holocaustvermögenskonferenz, die eine Nachfolgekonferenz der Londoner Goldkonferenz ist, hat eine Dynamik entwickelt, die auf die Öffnung der Archive zielt. In welchem Maß die Nazis eine gemeine Räuberbande waren, wird erst nach Auswertung der riesigen, neuen Archivmaterialien deutlich werden.
Dem deutschen Begriff des Schlußstrichziehens entspricht die englische Formulierung des „unfinished business“. Sie verweist auf unverarbeitete Traumata, die das Weiterleben belasten. Im Aufruf zur Holocaustvermögenskonferenz ist wiederholt vom unvollendeten Werk dieses Jahrhunderts die Rede, von der Aufarbeitung des größten Verbrechens dieses Jahrhunderts, damit man unbeschwert ins nächste gehen könne. Die Aufrechnung des Holocaust wird seiner international organisierten Durcharbeitung dienen. Gezahlt wird bis weit ins nächste Jahrhundert hinein, und die freiwerdenden Dokumente werden noch auf Jahrzehnte Stoff für Erinnerung liefern. Solch ein Schlußstrich kann nur gut für das kollektive Weltgewissen sein, das in Washington zu versammeln Ziel dieser Konferenz war. Peter Tautfest
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