Occupy-Camp in London: "Hier brate ich Weihnachten Truthahn"
Der Bauarbeiter David Ross aus Lancashire hat seinen Besitzstand verkauft. Sein neues Heim ist das Zeltlager der Occupy-Bewegung vor der Londoner St. Pauls Cathedral.
LONDON taz | Die Konstruktion macht keinen sonderlich stabilen Eindruck. David Ross hat zwei Äste zersägt, die Spitzen zusammengebunden und die anderen Enden an einer Palette befestigt. Ein weiterer Ast als Querstrebe hält das Gebilde im Gleichgewicht. "Hier drüben", sagt der 26-Jährige und zeigt auf eine Ecke der Palette, "werde ich Weihnachten meinen Truthahn braten." Ross ist der neueste Bewohner des Occupy-Camps an der Westseite der St. Pauls Cathedral in London.
Zunächst wollten die Demonstranten Mitte Oktober den benachbarten Paternoster Square besetzen, denn dort residieren Goldman Sachs und die Londoner Börse, doch die Polizei hat das verhindert. Der Dekan der St. Pauls Cathedral, eines Londoner Wahrzeichens, duldete die 200 Zelte jedoch und verhinderte dadurch die sofortige Räumung, aber der Stadtverwaltung ist das Camp ein Dorn im Auge.
Sie hat Anfang November an den mehr als 200 Zelten Räumungsbefehle angehängt und die Demonstranten aufgefordert, die Zelte abzubrechen. Ab 19. Dezember wird die Räumungsklage vor einem Londoner Gericht verhandelt.
Londons Tory-Bürgermeister Boris Johnson bezeichnete die Besetzer als "Hanf rauchende, herumhurende Hippies". Die meisten Medien sehen das ähnlich. "Wenn wir an Besetzungen denken, fallen uns die Nazis ein", meinte Sky-Reporter Adam Boulton. Die Daily Mail schrieb erzürnt, dass kleine Kinder dort im Dreck leben, die Polizei ständig Drogen beschlagnahme, und die Besucherzahl in der Kathedrale drastisch zurückgegangen sei.
Das Gegenteil ist wahr: Es gibt "save spaces" für Frauen und Kinder, Drogen und Alkohol sind im Camp verboten, und die Besucherzahlen sind eher gestiegen, weil Londoner und Touristen neugierig sind.
Jetzt gibt es auch Forderungen
Von Anfang an wurden die Besetzer von Passanten und den Medien gefragt, was denn eigentlich ihre Forderungen seien. "Da alle Beschlüsse von der Vollversammlung einstimmig gefasst werden, dauerte es eine Weile, bis wir das formuliert hatten", sagt Jim, ein Student aus Bristol, der zwei- bis dreimal in der Woche nach London kommt und im Infozelt arbeitet.
"Wir fordern die Abschaffung der Steueroasen und Schließung der Schlupflöcher, Transparenz bei den Lobbyaktivitäten von Unternehmen sowie juristische Reformen, damit Unternehmensführungen für ihre Missetaten und für ihr kriminelles Verhalten strafrechtlich verfolgt werden können."
Nach der Demo zur Unterstützung des Streiks der öffentlich Bediensteten am Mittwoch stürmten rund 40 Occupy-Aktivisten das Panton House, Hauptsitz des Bergbaumultis Xstrata, und besetzten es vorübergehend. Dessen Geschäftsführer Mick Davis erhielt voriges Jahr 17,7 Millionen Pfund.
Schon vorigen Samstag haben Occupy-Aktivisten das riesige, seit 2009 leerstehende Gebäude der Schweizer Bank UBS in der Sun Street in Hackney besetzt und eine "Bank of Ideas" mit einem Konfettiregen aus Financial Times-Schnipseln eröffnet.
Alles verkauft, bis auf seinen Hund
Das Haus soll sich zu einem Gemeindezentrum mit Büros, Tagungssälen, Kindergarten und Jugendclub entwickeln. Bisher fanden jeden Abend Veranstaltungen statt, und die Leute aus Hackney, einem der benachteiligtsten Viertel Londons, strömen in die Bank.
"Diese Ideenbank ist eine großartige Einrichtung", sagt Neubewohner David Ross. Er stammt aus Lancashire. Vor vier Wochen kam er nach London, blieb drei Wochen im Camp und fuhr wieder zurück nach Lancashire, um seinen Hausstand zu verkaufen und seinen Job zu kündigen.
"Ich habe als Bauarbeiter gearbeitet", sagt er. "Ich hatte ein Haus gemietet, besaß einen Flachbildfernseher, eine Sound-Anlage, eine Ledercouch und ein Auto." Er hat alles verkauft, nur seinen jungen Schäferhund hat er behalten.
Der zerfetzt seit einer Stunde einen Lederball, während sich Ross mit dem Zeltgestänge abmüht. Bevor der Regen einsetzt, hat er die Plane endlich über das Astgestänge gezogen und verschwindet mit seinem Hund im Unterschlupf.
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