Obdachlose in Budapest: "Orbán soll nur kommen"
József Papp ist seit 13 Jahren obdachlos, in ein Heim will er nicht. Das kann ihn schon bald teuer zu stehen kommen. Ein Gesetz soll das Wohnen auf der Straße verbieten.
Wenn es so etwas wie einen Star unter den Obdachlosen Budapests gibt, dann ist das sicherlich József Papp. Er kann mit Fug und Recht behaupten, er wohne auf der Straße. Genauer gesagt, auf einer Grünfläche mitten im Wohngebiet des XIV. Bezirks.
Der 63-jährige Mann mit von Kälte und Schnaps gerötetem Gesicht hat ein regelrechtes Wohnzimmer, in dem er auch Besucher empfangen kann. Er sitzt auf einem richtigen Bett mit richtiger Bettwäsche und kann Gäste an den Tisch bitten, der mit einem klassisch rot-weiß-karierten Tischtuch zur Mahlzeit oder zum Zechen einlädt.
Mit den Nachbarn lebe er seit 13 Jahren im besten Einvernehmen, versichert Papp. Selbst Temperaturen von minus 32 Grad konnten den stämmigen Mann, der in seiner aktiven Zeit sein Geld am Bau verdiente, nicht in eine beheizte Unterkunft zwingen. "Dort wird gestohlen" und man müsse sich an Regeln halten. Außerdem habe die Polizei noch nie den Versuch gemacht, ihn zu vertreiben, sagt József Papp.
Ersatzhaft für Schlafen im Park
Das könnte sich bald ändern. Am 1. Dezember tritt in Ungarn ein Gesetz in Kraft, das Obdachlosigkeit zum strafrechtlich verfolgten Delikt macht. Wer nach einer ersten Verwarnung innerhalb von sechs Monaten neuerlich auf der Straße angetroffen wird, muss umgerechnet 500 Euro Strafe zahlen oder er kommt hinter Gitter. Für Menschen, die ja im Park schlafen, weil sie sich eine Wohnung nicht leisten können, bedeutet das Ersatzhaft.
In den kalten Monaten ist der Krisenbus der Stiftung Zuflucht ("Menhely Alapítvány") jeden Abend in Budapest unterwegs. Der Sozialarbeiter Zoltán Gurály macht die Tour alle 14 Tage: "Wir besuchen bekannte Schlafstellen und reagieren auf Notrufe." Die Hotline ist 24 Stunden lang besetzt. Obdachlose, denen es schlecht geht, oder Passanten, die auf eine offensichtlich hilfsbedürftige Person treffen, rufen dort an.
Gleich zu Beginn der Tour, kurz nach 18 Uhr, gibt es einen Notruf. Der 61-jährige Ferenc Zsordos will abgeholt werden. Direkt am Prachtboulevard Andrássy út, zwischen den Denkmälern der Helden aus den Türkenkriegen, János Vak Bottyán und Miklos Zrinyi, steht er, gestützt von einer Passantin. Der Schnauzer im hageren Gesicht ist grau, ausgebleicht wie sein ehemals weinroter Anorak. Er klagt über Lungenprobleme und geht nach mehreren Beinoperationen am Stock.
Zoltán Gurály und der Busfahrer geleiten ihn behutsam in den Kleinbus und bringen ihn in eine Ambulanz, die Öffentliche Stiftung für Obdachlose, die auch ein paar Betten zur Verfügung stellt. Der Arzt meint zwar, Zsordos habe keine akuten Probleme, alle Unterstandslosen hätten es auf der Lunge, doch nach einigem Hin und Her darf er bleiben. Zoltán: "Wenn er Glück hat, behalten sie ihn hier ein bis zwei Monate."
5.000 Schlafstellen
Budapest bietet 5.000 Schlafstellen für Obdachlose in etwa 30 Heimen. Das sind zur Hälfte Einrichtungen von NGOs, zu einem Drittel kommunale Asyle und ein paar kirchliche Heime. Diese Betten sind größtenteils permanent belegt. Zwischen 2.000 und 3.000 Menschen müssen auf der Straße schlafen. Unter den Kommunisten, so Zoltán Gurály, sei Budapest Sperrgebiet für Obdachlose gewesen. Wer keinen Job hatte, wurde als unverbesserlicher Asozialer eingestuft. Sie lagerten im Umkreis der Hauptstadt.
Heute lebt rund die Hälfte aller Obdachlosen des Landes in Budapest. "Die Stadt bietet Infrastruktur, mehr Wärme, eine gewisse Sicherheit und volle Mülleimer", sagt Miklós Vecsei, Vizepräsident des Ungarischen Malteser Hilfsdienstes. Die Malteser haben landesweit 200 Angestellte und um die 100 Freiwillige im Einsatz für Obdachlose.
Im Schlafsaal der Öffentlichen Stiftung für Obdachlose stehen 14 Betten. Es sind einfache alte Spitalsbetten. Außer einem Tisch mit vier Stühlen ist der Raum sonst leer. In einigen Betten liegen Männer und lesen oder versuchen zu schlafen. István Roben sitzt auf seinem Bett und plaudert mit einem Kollegen mit Gipsbein. "Ich bin selber schuld, dass ich auf der Straße gelandet bin", sagt er. Mehrmals habe er seine Frau und die beiden Töchter verlassen und sei dem Ruf eines Freundes ins Ausland gefolgt.
In Wien arbeitete er mehr als ein Jahr bei der Müllabfuhr, in Frankfurt und München hielt er sich mit Jobs über Wasser. Ersparnisse hatte er keine, als ihn ein Lungentumor in die Heimat zurückholte. Kurz darauf machte ihn ein Gehirnschlag arbeitsunfähig. Ein Sozialarbeiter bemühe sich um eine Invalidenrente für ihn, erzählt der 56-Jährige, dem sämtliche Schneidezähne fehlen. Wenn er die Rente bekommt, dann will er wieder bei seiner Frau anklopfen. Die Töchter, inzwischen 17 und 19 Jahre alt, hat er seit Jahren nicht gesehen. Aber ganz ohne Geld in der Tasche traue er sich nicht nach Hause.
Gescheiterte Beziehungen und Jobverlust liegen der Obdachlosigkeit oft zugrunde. Der Soziologieprofessor Pál Tamás spricht von der zweiten Welle der Obdachlosigkeit: "Die erste Welle kam bald nach der Wende, als die Arbeiterheime geschlossen wurden." In der kommunistischen Zeit hatten Betriebe ja auch soziale Funktionen: Es gab Sportvereine, Kultureinrichtungen und eben auch Wohnstätten für die Arbeiter.
Nach der Wende hat sich das geändert. Für die Arbeiter war kein Platz mehr, so Tamás: "Investoren wollen Geld verdienen und keine Sozialeinrichtungen finanzieren." Diese Leute seien größtenteils nicht mehr am Leben. Ein, zwei Winter auf der Straße, mehr könne der Mensch nicht aushalten.
Zunehmend Roma
Miklós Vecsei vom Malteserorden sieht den Mangel an bezahlbaren Wohnungen als einen der wichtigsten Gründe, dass Menschen auf der Straße landen. Und er hat beobachtet, dass in den letzten Jahren der Anteil der Roma dramatisch zugenommen habe: "In den 1990er Jahren waren weniger als zwei Prozent der Obdachlosen Roma. Heute ist es jeder Vierte." Das liege daran, dass die traditionellen Sozialstrukturen, die Großfamilien und Gemeinschaften bieten, langsam zerfallen: "Als Folge tiefer Armut." Am Stadtrand von Budapest sind in den letzten Jahren Elendssiedlungen entstanden, die Vecsei mit südamerikanischen Favelas vergleicht.
Zoltán Gurály muss einem weiteren Notruf folgen. Im XIII. Bezirk, auf dem Béke-Platz liege ein Mann im Gras, reglos und ohne Decke. Mit einem alten Anorak bekleidet liegt er da unter einer jungen Buche. Nur eine dünne Decke trennt ihn vom Erdboden. Obwohl sich die Temperatur dem Gefrierpunkt nähert, verweigert der Mann jede Hilfe. Er will nicht ins Nachtasyl, eine Decke brauche er nicht und auch auf den heißen Tee könne er verzichten. "Ich hasse das, wenn man nichts machen kann", schimpft Zoltán, "ich will nicht am nächsten Tag lesen, dass wieder einer erfroren ist." So wie Mitte Oktober, als die erste Frostnacht auf dem Hunyadi Platz zwei Männer dahinraffte.
Keine Angst vor dem Kältetod hat Evi Heiderich. Eingepackt in einen Schlafsack und zwei flauschige Decken liegt sie im Eingang des Angol Holland Second Hand Shop auf dem Theresienring. Wie lang sie schon in Budapest auf der Straße lebt, ist unklar. Sie spricht von drei Jahren. Zoltán kennt die Deutsche, die aus irgendeinem kleinen Nest bei Stuttgart stammt, seit 2006.
Die ehemalige Postbeamtin hat sich jedenfalls eine Rechtfertigung zurechtgelegt. Sie habe sich die Stadt anschauen wollen: "Dann ist mir das Geld ausgegangen." Die Botschaft wolle ihr keine Heimreise finanzieren, klagt sie. Untertags sammelt sie Leergut. Das bringe so zwischen 400 und 600 Forint, also maximal zwei Euro am Tag. Vom neuen Gesetz, das ihre Lebensweise kriminalisiert, hat Evi noch nie gehört. Sie spricht kaum Ungarisch und hat wenig Kontakt mit anderen Obdachlosen.
"Repression keine Lösung"
Máté Kocsis, Bezirksvorsteher des VIII. Bezirks, steht für saubere Straßen. In seinem Bezirk ist sogar das Wühlen in Mülltonnen und das Abstellen der Habseligkeiten verboten. Für diese Verdienste hat ihn Premier Viktor Orbán von der populistisch rechtsnationalen Bürgerunion Fidesz zum Referenten für Obdachlosenfragen im Parlament machen lassen. "Jeder wird mit einer beheizten Unterkunft ausgestattet, auch gegen seinen Willen", verteidigt Kocsis das Gesetz, das im Dezember in Kraft tritt.
Die Grünen-Partei LMP hat gegen das Gesetz gestimmt. "Repression ist keine Lösung für ein soziales Problem", sagt der LMP-Abgeordnete Gábor Vágó. Die Unterkünfte, die der Regierung vorschweben, sind mangels echter Obdachlosenheime Zeltstädte. "Das ist menschenunwürdig", wettert Vágó. Miklós Vecsei von den Maltesern befürchtet, dass die Obdachlosen, wenn ihnen Gefängnis droht, in die Wälder ausweichen und dort für Sozialarbeiter nicht mehr auffindbar werden. "Solche Maßnahmen zu Winterbeginn sind unmenschlich. Die Regierung sollte besser mit uns kooperieren."
Nur József Papp, der sich auf der Straße fest eingerichtet hat, strotzt vor Zuversicht. Er weiß von dem neuen Gesetz. Aber er sei kräftig wie ein Bauer und nehme es mit jedem auf: "Orbán soll nur kommen!"
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