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OFFENER BRIEF„Ich bin politisch heimatlos“

■ Daniel Cohn-Bendit ist die Einwanderungs- und Asylpolitik der Grünen leid

Liebe Freundinnen und Freunde, ich weiß nicht, wie die LandesGrünen Hessen und die KreisGrünen in Frankfurt am Main mit dem in Berlin gefaßten Beschluß zur Einwanderungs- und Asylpolitik umzugehen gedenken. Ich möchte meinerseits jedoch öffentlich wie parteiintern klarstellen, daß ich erstens diesen Beschluß für unsinnig und gefährlich halte und daß ich ihn daher zweitens in meiner täglichen Arbeit als Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten weder umsetzen kann noch will.

Ich will nicht in Abrede stellen, daß die Mehrheit der in Berlin vertretenen Grünen in bester moralischer Absicht abgestimmt hat. Nur weiß ich schon zu lange, daß moralische Beschlüsse auf Parteitagen in der täglichen Alltagsarbeit „vor Ort“, wie man so schön sagt, nicht das Papier wert sind, auf das sie gedruckt wurden. Das gilt ganz besonders für Euren Beschluß zur Einwanderungs- und Asylpolitik. Sein einziger Sinn: Er hat Euch ein Gefühl von moralischer Überlegenheit verschafft. Ansonsten hilft er praktisch niemandem. Und so empfinden es sowohl die hier eingewanderten Migranten und Flüchtlinge als auch die hier lebenden Menschen „germanischen Ursprungs“.

Die Bundesrepublik Deutschland ist längst ein Einwanderungsland, und es ist höchste Zeit, daß sie das anerkennt und nicht weiter die institutionellen Augen vor dieser Realität verschließt. Es ist jedoch ebenfalls eine Flucht vor der Realität, wenn Ihr großmundig „offene Grenzen“ fordert. Es gibt keine Gesellschaft auf der Welt, in der Einwanderung nicht auch zu Problemen und Konflikten führen würde. Gerade deswegen ist es notwendig, daß ein Einwanderungsland sich Spielregeln gibt: ohne solche Spielregeln lauert in Konflikten ein bedrohliches Potential. Ich halte es in einer Demokratie für eine Selbstverständlichkeit, daß die Gesellschaft die Formen der Zuwanderung selbst regelt. An diesem Prozeß müssen alle gesellschaftlichen Kräfte beteiligt werden — auch (im Vorgriff auf eine nicht-völkische Definition von Staatsbürgerschaft) die Migrantenorganisationen!

Zugleich gilt jedoch: das Subjekt einer Demokratie sind die in ihr lebenden Bürgerinnen und Bürger. Allein sie und ihre Institutionen können entscheiden, wie und in welchem Umfang die Bundesrepublik Einwanderungsland sein soll. Mit Eurem Beschluß habt Ihr Euch großspurig an die Völker der Welt, nicht aber an die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes gewandt. Genau darum aber müßte es gehen. Aufgabe der Grünen wäre es, mit der Bevölkerung in einen Dialog über das Thema zu treten und für das Einwanderungsland Deutschland zu werben!

Auch Euch dürfte es nicht entgangen sein, daß es in dieser Republik real existierende Menschen gibt, für die das nicht selbstverständlich ist, die sich darüber Sorgen machen und die für die populistischen Parolen der schrecklichen Vereinfacherer und der Ausländerfeinde empfänglich sind. Man muß diese Leute, wo immer möglich, überzeugen und gewinnen — was viel schwieriger ist als ein vor Moral und Selbstgerechtigkeit triefendes Signal an alle zukünftigen Einwanderer, sie seien — ginge es nach den Grünen — hochwillkommen. Kein Mißverständnis: es geht nicht darum, den Ausländerfeinden auch nur einen Millimeter entgegenzukommen. Wohl aber darum, anzuerkennen, daß diese Gesellschaft Schwierigkeiten damit hat, sich als Einwanderungsland zu verstehen. Mit denen, die diese Schwierigkeiten haben, muß man sich auseinandersetzen. Tut man das nicht, treibt man die Leute den rechten Populisten in die Arme! [...]

Es geht darum, Asylpolitik und Einwanderungsgesetzgebung voneinander zu trennen. Die Bundesrepublik wie das kommende Europa brauchen eine eindeutige Asylpolitik: Verfolgte müssen das Recht auf Zutritt haben. Etwas anderes ist eine Einwanderungsgesetzgebung, die den Menschen die Möglichkeit gibt, sich in dem gesellschaftlichen Prozeß zu integrieren, zu überleben und dabei auch ihre Identität beibehalten können. Der schwierige Prozeß der Integration bei Beibehaltung einer eigenständigen kulturellen Identität kann zwar niemals konfliktfrei stattfinden, aber demokratisch und zivil, wenn ein guter Teil der Mehrheitsbevölkerung mit vollem Herzen hinter einem solchen Prozeß steht. [...]

Ich hätte es verstanden, wenn die Grünen in Berlin ein Einwanderungsgesetz mit großzügigen Quoten beschlossen hätten. Und ich hätte verstanden, wenn sie eine radikale Erhöhung der Hilfe zur Selbsthilfe in den Entwicklungsländern gefordert hätten, vor allem für solche Länder, in denen ein starker Migrationsdruck besteht und gerade die so notwendigen qualifizierten Arbeitskräfte auswandern. Ich hätte es schließlich auch verstanden, wenn die Grünen diese Erhöhung zur Bedingung gemacht hätten. Denn es ist wahr, daß kurz- und mittelfristig die großen Migrationsschübe von Osten nach Westen und von Süden nach Norden nur dann zu beeinflussen sein werden, wenn immer weniger Menschen sich gezwungen fühlen, aus politischen, sozialen, ökonomischen oder ökologischen Gründen ihre Heimat zu verlassen.

Hier wäre etwa eine Forderung nach einer Verzehnfachung der Entwicklungshilfe bei einer radikalen Umformulierung ihrer Ziele und Inhalte zwar eine sehr voluntaristische gewesen, sie hätte aber immerhin den Sinn gehabt, die Gesellschaft zu zwingen, in die richtige Richtung zu denken.

Eines will ich noch klarstellen: Obwohl ich eine andere Position habe in der Frage des Artikels 16 GG als mein Kreis- und Landesverband, nämlich ob dieser nun revidiert oder ergänzt werden müsse oder nicht, war dies noch eine Auseinandersetzung, in der ich die andere Position zwar für falsch, aber für verständlich und nachvollziehbar hielt. Dies war noch ein Spannungsbogen, den ich aushalten konnte. In der Frage des Einwanderungsgesetzes und der Zuwanderung stehe ich vor einem Dilemma: Entweder werde ich zum Parteisoldaten, der mit schlechtem Gewissen immer vor sich hersingt „right or wrong — my party“, oder ich distanziere mich aufgrund meiner persönlichen Überzeugung von der Linie meiner Partei und werde zum aktiven politischen Dissidenten. Wo die Grenze zum gemeingefährlichen Unsinn überschritten ist, ist mein Vorrat an Solidarität mit den Grünen allmählich erschöpft. [...]

In der Frage der Einwanderungs- und Zuwanderungspolitik bin ich sozusagen heimatlos. Denn die von mir vermißte Ernsthaftigkeit bei den Grünen im Umgang mit dieser Frage finden wir genauso und schlimmer bei den anderen Parteien. Hier hilft meiner Ansicht nach nur mehr eine Koalition der Vernünftigen. Es wird Zeit, daß in dieser Frage parteienübergreifend Individuen sich zusammensetzen und einen Vorschlag machen zur Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, der einen breiten Konsens innerhalb der Bevölkerung ermöglicht, bei Wahrung der Grundrechte für Migranten und Flüchtlinge. Wenn wir dies nicht in den nächsten Monaten schaffen, ermöglichen wir es, daß im nächsten Bundestag die Rechtsradikalen triumphierend einmarschieren. [...]

Ich bin nicht mehr bereit, dieses Spiel mitzumachen. Ich möchte mich nicht im Gefühl meiner besseren Einsicht und meiner moralischen Überlegenheit baden — ich möchte diese Republik, die sich zusammen mit anderen Ländern Europas in einer schwierigen und vielleicht gefährlichen Situation befindet, erhalten und verbessern.

Welche Konsequenzen die Grünen, auf welcher Ebene auch immer, hieraus ziehen, ist ihr Problem.

Mit freundschaftlichen Grüßen Daniel Cohn-Bendit

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