: O T T O F L A K E
■ B I LA N Z U N D A B S C H I E D
Er setzte sich vor den Tisch, hob die einzelne Akte auf. Drei waren fertig, das Stück gesichert, der letzte Akt erst angefangen. Gedanken, mit denen man sich ein halbes Jahr beschäftigte, waren wie eine Vergiftung. Sie ekelten ihn an, er nahm Hut und Stock, ging aus.
Berlin trat unter das Zeichen des späten Nachmittags, Stadt, die in vierundzwanzig Stunden den Himmelskreis eines vollen Tages durchwanderte, schnellster Stern, denkendes Geschöpf, in dem das Fieber der Gezeiten ebbte und schwoll. In den Cafes entzündeten sich, die erst vor dem frühen Morgen verblassen würden, alle Lampen. Künstliches, nur in einer künstlichen Häufung von Häusern und Menschen möglich, in diesem Ameisenstaat der Geschäftigkeit und erregten Wichtigkeit. Wunsch stieg auf, wie Gulliver zu sein, der ihn achtlos zertritt, weil Geschäftigkeit und Wichtigkeit nur bis zur Sohle seines Schuhes reichen. Er trat in das Cafe, wo die saßen, die seinesgleichen waren. Also bin logischerweise ich ihnen gleich, sagte er sich mit einem forschen Blick auf Gesichter, die alle den Stempel ihrer Beschäftigung trugen, als sei Zustand des geistigen Menschen nichts anderes als ein Beruf, wie Schauspieler, Offizier, Börsenmann sein Beruf war. Man konnte Sehnsucht nach den unchristlichen und gar nicht geistigen Gesichtern antiker Statuen empfinden.
Nachsinnend der Idee voll Antithese wurde er gestört. Dieser Menschen einer trat an seinen Tisch und begrüßte schmeichlerisch - Witten, der Kritiker, der fünf Jahre seinen Stolz darein gesetzt hatte, in keinem bürgerlichen Blatt eine Zeile zu schreiben und sich dann von einer Filmgesellschaft hatte anwerben lassen, um unter der Literatur Mitarbeiter zu suchen - agent provocateur des Kapitalismus. Jene unentwegten Jahre waren dieselben gewesen, in den Lauda seine Stücke umsonst den Theatern angeboten und zäh weitergearbeitet hatte - gemeinsame Jahre, die eine Zeitlang der Freundschaft glichen...
Kunst, welch eine anrüchige Sache war das, Produkt einer Stauung, die sich verzweifelt gegen die Ohnmacht, die Dinge zu lenken, entgegenstemmte; wenn sie einen Gedanken gefunden hatte, an dem sie sich entlangtasten konnte, triumphierte, als sei nun alles klar, und dann doch verzweifelte, weil nichts gesagt war, nicht das Zauberwort, das das Meer der Empfindungen bannte und ihm die Ruhe befahl, die Gewißheit ist... Er wurde ruhig, nächtliches Zimmer war hell. Er zog Bilanz. Als Künstler konnte er nicht mehr arbeiten, das Stück auf dem Tisch nicht beendigen, weil er den Glauben an den Ernst und die Unentbehrlichkeit dieser Beschäftgung nicht mehr besaß. Also ein Versagen der Kraft, dieser Kraft wenigstens. Auf halbem Weg seines Lebens, in der Vorhalle der Erfolge, in der Mitte seines Dahinstürmens vom Donnerschlaf der Erkenntnis gelähmt, ausgestoßen aus der Schar der Bewerber, Blick in das Nichts ... Er ordnete seine Papiere, kündigte brieflich der Sekretärin, nahm von Marianne schriftlichen Abschied und packte. Am nächsten Morgen sprach er mit dem Hausmeister, ging auf die Bank, fuhr zur Bahn. Die Stadt, vor fünf Jahren mit dem Gelöbnis, ihrer Herr zu werden, betreten, lag in derselben Breite, derselben Frische, derselben Sonne da - er verließ sie nicht gebrochen, aber doch mit dem bittren Gefühl, nicht zu wissen, ob er noch einmal, in zweiter Jugend, Gepäck vor sich, Ideen in sich, Einzug in sie halten würde. Er war auf den Tag dreißig Jahre.
Eine auf Berlin gemünzte Episode aus dem 1919 erschienenen Roman von Otto Flake: 'Die Stadt des Hirns‘.
Ausgewählt von Michael Trabitzsch
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