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Archiv-Artikel

Nur nicht trödeln

Nicholas Strange glaubt nicht, dass wenige Kinder und viele Alte schlecht für eine Gesellschaft sind. Denn Verteilungsgerechtigkeit, sagt er, hat wenig mit Biologie und viel mit guter Politik zu tun

VON HILAL SEZGIN

Nach allem, was man so hört, werden wir in wenigen Jahren von alten Menschen umzingelt sein, ohne dass genügend junge da wären, um die anfallenden Arbeiten zu übernehmen. Nach allem, was man so sieht, ersaufen wir aber bis dahin vermutlich sowieso in Zahlen. Die Kinderzahl pro Frau wird einem bis hinters Komma vorgerechnet, dann verglichen mit der prognostizierten Gebärfreude von Migrantinnen, herausgerechnet die Rückkehrer, einbezogen der medizinische Fortschritt und das alles vermengt mit dem Bruttosozialprodukt und anderen Wirtschaftsfaktoren. Ergebnis: Wir werden im Alter unversorgt und altersdement dahinvegetieren.

So fasziniert debattieren wir Alternden das vermeintlich Unabwendbare, dass der Volkswirtschaftler Nicholas Strange von einem allgemeinen „Gruselgenuss“ spricht, von einer regelrechten „Methusalemhysterie“; mit seinem Buch „Keine Angst vor Methusalem“ tritt er an, uns von beidem – der Angst vor dem Übel und der Angst vor den Zahlen zum Übel – zu erlösen. Auch er hat natürlich eine unglaubliche Menge Statistiken im Gepäck, denn Zahlen kann man nur mit Zahlen entkräften. Und so wachsen und schrumpfen in seinem Buch fröhlich Balken und Vergleichswerte zu Bildungsentwicklung, Säuglingssterblichkeit, Kernarbeitspotenzial und „BSP (Milliarden US-$ & kaufkraftbereinigt) 2002“. Das Gute ist: Selten hat ein Autor seinen Lesern „BSP kaufkraftbereinigt“ so verständlich machen können; und die Grundargumente versteht man auch ohne alle Zahlen und Vorkenntnisse nur mit dem gesunden Menschenverstand.

Dabei vertritt Nicholas Strange seine Sache mit viel Elan und Formulierfreude. Letztere geht allerdings manchmal mit ihm durch: Es muss nicht jedes Argument in Form einer griffigen Metapher dargeboten werden! So mag es noch angehen, die Alterspyramide „sozusagen die fleischgewordene Geschichte der Nation“ zu nennen. Wie anschaulich ist aber ein Vergleich, demzufolge diese Pyramide bis 2005 „eher wie ein von Motten befallenes Kondom aussehen [wird], mit mehr oder weniger parallel verlaufenen Seitenprofilen und einer zerquetschten Spitze“? Was für sonderliche Motten sind das überhaupt?

Sei’s drum. Des Autors erstes Argument jedenfalls lautet: Wirtschaftswachstum und Produktivitätsrate sind selbst Quoten mit positivem Wachstum; ginge also das Wachstum dieses Wachstums zurück, bliebe immer noch Wachstum übrig. Anders ausgedrückt: Es geht hier „weniger um die Frage von Hunger oder hinreichender Nahrungsgrundlage als vielmehr um die Frage, ob wir in fünfzig Jahren dreimal oder nur zweimal so wohlhabend sein wollen wie heute“. Diese Einsicht ist schon so beruhigend, dass man sie ausdrucken und an die Wand pinnen könnte.

Doch seien wir ehrlich: Wir wollen natürlich lieber dreimal so viel. Daher kommt hier Stranges zweites Argument: Selbst wenn man politisch die Zahl der Neugeborenen nicht oder kaum beeinflussen kann, ist die Menge der zu verteilenden Arbeit und sogar die Zahl derer, auf die sie verteilt werden kann, keine feste Größe. Nicht die Biologie bestimmt, wie viele Kinder, Alte, Kranke, Schwache ein Arbeitender (mit)ernähren muss; sondern diese „Abhängigkeitszahl“, erklärt Strange, lässt sich verändern: indem wir nämlich „Kapazitätsreserven aktivieren“.

Um solche Kapazitätsreserven zu finden, durchforstet er sämtliche Bereiche der typischen deutschen Ausbildungs- und Berufsbiografie; und natürlich gibt es überall noch etwas zu holen: Deutsche Kinder haben zwar ein Jahr mehr Schulzeit zu absolvieren, kommen aber europaweit in den Genuss von unterdurchschnittlich vielen Schulstunden; zudem werden sie später eingeschult: Hier lassen sich pro Nase also zwei Jahre einsparen. Das würde auch viele Frauen früher wieder aus ihrem Heim auf den Arbeitsmarkt entlassen, weil deutsche Mütter vergleichsweise lang und aufwändig mit der Betreuung ihrer Kinder beschäftigt sind – die sie zudem relativ spät zur Welt bringen, weil auch die Studienzeit in Deutschland so unnötig lang ist.

Unnötig jedenfalls in den Augen des in England aufgewachsenen Strange, der von dem ganzen deutschen „Trödeln“ nicht viel hält. Er sieht unsere Schüler, unsere Studenten, uns alle als „Opfer einer fatalen deutschen Lebenseinstellung“, „die darum bemüht ist, den Einzelnen in keiner Lebenslage zu ‚überfordern‘“, Strange freut sich deshalb schon auf den bundesweiten Siegeszug des Bachelor-Systems. Und das ist auch der einzige Punkt, wo man den agilen Autor ein wenig bremsen möchte: Was, wenn wir doch selbst beim Studieren so gern getrödelt haben? Sollen wirklich Adoleszenz und Studium bereits vollständig dem Höher, Schneller, Weiter kapitalistischer Effizienzsteigerung unterworfen werden? Wo sollen denn die ganzen fantastischen bis unsinnigen Ideen herkommen, die wir als Erwachsene zwar belächeln, die aber als utopischer Gegenpol jeder Realpolitik unverzichtbar sind?

Von diesem Detail abgesehen, findet der Autor jederzeit beruhigend viele Argumente für die gute linke Sache: Die Teilzeitarbeit möchte er steigern, ein Grundeinkommen hält er für beschäftigungspolitisch geboten. Und was den Kontext Frauen und Gebären angeht, ist er wohltuend emanzipiert: Sowohl ist ihm klar, dass Erziehen eine Sache beider Geschlechter ist, als auch kommt er nie auf die Idee, Frauen wegen mangelnder Nachkommen einen Vorwurf zu machen.

Wenn wir also alles richtig machen, wird alles gut. Das ist die gute Botschaft von Nicholas Strange. Nach dieser Nachricht würde man sich jetzt gerne schön zurücklehnen. Und weiter altern.

Nicholas Strange: „Keine Angst vor Methusalem! Warum wir mit dem Altern unserer Bevölkerung gut leben können“. Zu Klampen Verlag, Springe 2006. 138 Seiten, 16,80 Euro