: Nur mit Rückversicherung zu betrachten
■ Der Fall Jürgen Bartsch und Bartschs Briefwechsel mit dem Journalisten Paul Moor — eine Publikation, auf der Oliver Reeses Stück (vgl. Artikel rechts) beruht
Die Nachricht vom Tod des Jürgen Bartsch auf dem Operationstisch entlockte einem den Ausruf, wie typisch dieser Tod doch wieder sei in einem Land, das die Massenmorde der Nazizeit zu verdrängen suchte, auf die Mordtaten eines jugendlichen Kranken aber mit sinnloser Härte und intellektuellen Blockaden reagierte. Mittlerweile ist es 18 Jahre her, daß ein Chirurg mit der Kastration das letzte und so logisch scheinende Therapeutikum gegen einen notorisch entarteten männlichen Sexualtrieb zur Anwendung brachte. Jürgen Bartsch, damals 29 Jahre alt und seit zehn Jahren in Gewahrsam, starb am 28.4. 1976, aber keineswegs einen symbolisch sinnreichen Tod, sondern an einem Narkosefehler. Was war es, das einen vierfachen Kindermörder so anziehend und zum Adressaten von Rettungsideen der menschenfreundlichsten Art machen konnte?
1967 fand in Wuppertal der erste Prozeß statt, in dem Jürgen Bartsch, der den ersten Mord im Alter von 15 Jahren begangen hatte, als voll verantwortlich für die unvorstellbaren Abläufe in seinem Inneren und in der Wirklichkeit bezeichnet und zu mehrfach lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Im selben Jahr hatten Alexander und Margarete Mitscherlich uns als historisches Kollektiv mit der „Unfähigkeit zu trauern“ konfrontiert, und dieser Zufall hat im Rückblick einen tieferen Sinn bekommen.
So falsch wie der Übergang zur Tagesordnung nach 1945 gewesen war, so unzureichend war jetzt die strafrechtliche Auseinandersetzung mit einem jugendlichen Täter, dessen Biographie so typische Defizite und Beschädigungen aufzuweisen schien. Mochten seine Taten auch unvorstellbar bleiben, der Urgrund, auf dem sie möglich geworden waren, mußte besichtigt und endlich kultiviert werden.
Das Urteil im zweiten Prozeß von 1971 lautete auf zehn Jahre Jugendstrafe und Einweisung in eine Heilanstalt. Damit war Jürgen Bartsch der Status eines Kranken zugebilligt. War er heilbar, gar zu resozialisieren? Es fand sich dann aber weder ein Platz, der hinreichend sicher schien, noch ein Analytiker, so daß Bartsch aus diesen, wohl aber auch aus anderen Gründen seine Resozialisierung in die eigenen Hände zu nehmen versuchte. Er normalisierte seine Sexualität, indem er eine Brieffreundin heiratete, obwohl ihm seine Homosexualität klar bewußt gewesen sein muß, und betrieb dann die Operation, bei der er schließlich starb.
Zwischen 1968 und 1976 schrieb er Briefe an den Journalisten Paul Moor, in denen nicht bloß eine Geschichte rekapituliert, sondern auch der Zustand dargestellt wird, in dem er eingesperrt blieb. Paul Moors Beweggrund, sich über die ganzen Jahre hinweg für ihn einzusetzen, war, wie er selbst schreibt, ein Interesse, aus dem Liebe wurde, die Liebe zu einem Spiegelbild, dem er dann aber doch wohl kaum so ähnlich ist, wie er glaubt.
Den Briefwechsel zu lesen kommt einem Anschlag auf die seelische Gesundheit gleich. Der Vergleich, mit dem uns Moor zum Verständnis und auch zur Identifikation mit Bartsch verleiten will, ist falsch. Man habe schließlich gelernt, auch Kranken mit ekelerregenden Körpersymptomen beizustehen; warum sollte es uns mit psychischen Symptomen nicht auch einmal gelingen?
Mit dem Vergleich vertuscht Moor, daß das widerlichste psychische Symptom etwas völlig anderes ist als eine Kette von Taten, die wir im nachhinein mit großer Anstrengung nur noch als krankhaft klassifizieren können. Weiter als bis zur Beschränkung auf diese Klassifizierung kann die Humanität, kann keine Gesellschaft gehen. Wieso Moor unbeirrbar an die Möglichkeit einer psychoanalytischen Therapie glaubte, ist unverständlich. Experten hatten ihm versichert, daß der Erfolg allenfalls darin bestehen könnte, daß Bartsch, befreit von seiner Perversion, Selbstmord begeht.
Mit einem anderen Vergleich ist Moor der Wahrheit von Jürgen Bartsch näher gekommen, als ihm lieb sein dürfte. Zu Recht kritisiert er das Wuppertaler Gericht, das dem überdurchschnittlich intelligenten und bei seinen Verbrechen planmäßig operierenden Bartsch die Kontrolle seine Triebes zugemutet und ihm den Status eines Kranken abgesprochen hatte.
Sowenig wie der religiös und moralisch eingeschüchterte Jugendliche von der Onanie ablassen kann, so wenig habe Bartsch, meint Moor, sich seiner speziellen Versuchung widersetzen können. Das ist vermutlich richtig, verdeckt aber die unterschiedlichen Folgen der Triebbefriedigung. Die eine ist harmlos, die andere hat das sadistische Schlachten hübscher acht- bis dreizehnjähriger Buben zum Inhalt, über deren Aussehen – brünett, schlank, ohne Brille usw. – Bartsch auch genau Auskunft gibt.
Vielleicht kommt die alptraumhafte Atmosphäre, in die der Leser dieser Briefe entrückt wird, von der schamlosen Direktheit, mit der über das Unausdenkbare und Unvorstellbare geschrieben werden kann. Es ist der begehrliche Blick der Liebe, den man kennt, auch wenn er hier auf Kinder fällt. Es ist derselbe Blick, der dann auf einem toten Kind liegt, dessen noch einmal zurechtgerückter Körper von wollüstigen Schaufelschlägen endgültig zerstört wird. Nie konnte Bartsch aufhören, so zu phantasieren, wie er es seit seinem 14. Jahr getan hatte. Der Triebschub der Pubertät beförderte ihn in eine andere Welt, neben der alles andere zur Bedeutungslosigkeit verblaßte.
Welche gesellschaftskritischen Aufarbeitungen sich an und mit dem Fall Bartsch auch thematisieren ließen, die Taten und die Person des Täters bleiben davon unberührt. Sie addieren sich nicht aus Defiziten in der Familienerziehung, der puppenhaften Dressur durch eine launenhafte Adoptivmutter, fehlende Sexualkunde und die katholische Version der Heimerziehung für Knaben.
Man kann das Problem auch anders als sozialpädagogisch und gesellschaftskritisch formulieren. Ganz im Sinne von Georges Bataille war dieser junge Mann aus dem Ruhrgebiet ein großer Verbrecher, der aller Zivilisation hohn sprach. Seine Jugend, sein sympathisches Äußeres, seine gelehrige Intelligenz und Anpassungsbereitschaft standen in einem denkbar extremen Widerspruch zu den Abläufen in der Langenberger Höhle, wo Bartsch das orgiastische Finale seines Begehrens inszenierte. Nicht Horizonte, sondern Abgründe riß er auf, in die zu blicken wir uns allenfalls mit Rückversicherungen gestatten können. Katharina Rutschky
Paul Moor: „Jürgen Bartsch: Opfer und Täter – Das Selbstbildnis eines Kindermörders in Briefen“ Rowohlt Verlag.
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