: Nur geträumt …
Sex unter Männern ist in muslimisch geprägten Ländern kein Problem, solange einer „nur aktiv“ sein kann und der andere „kein richtiger Mann“ ist. Mit Homosexualität hat das nichts zu tun: Gleichgeschlechtliche Liebe auf Augenhöhe wird bestraft
VON CHRISTIAN KNOOP
Es ist nicht nur ein Gerücht: In den türkischen Bädern geht es heiß her zwischen den Männern. So schrieb 1980 der schwule Geschichtsschreiber und Yale-Professor John Boswell: „Die meisten muslimischen Kulturen haben gegenüber Homosexualität eine indifferente, wenn nicht gar bewundernde Haltung“, der Islam habe generell eine „positive Einstellung gegenüber schwuler Sexualität“. Als Beleg hierfür diente ihm die klassische arabische Dichtung, die „Schwule und ihre Sexualität mit Respekt oder lockerer Akzeptanz“ behandle. Auch die Verbreitung männlicher Prostitution in traditionellen muslimischen Gesellschaften oder die Liebesbeziehungen zahlreicher islamischer Herrscher, Gelehrter oder sonstiger Würdenträger zu jungen Männern oder Knaben dienten ihm als Beweis für die Existenz eines orientalischen Homoparadieses.
Ähnliches behauptete die Orientalistin Annemarie Schimmel , denn „das Objekt [der Liebe] kann eine verschleierte Dame, eine kokette Kurtisane, ein schöner Jüngling, ein dem sich als Bettler fühlenden Dichter unerreichbarer Prinz sein – ihm oder ihr zu nahen ist unmöglich, und so führt man poetische Dialoge mit dem geliebten Wesen, bedenkt in langer, dunkler Nacht die langen, dunklen Locken, man träumt von einem Kuss und wird, vielleicht, durch das Wunder unverhoffter Vereinigung über Raum und Zeit hinaus entrückt“. Anstatt sich nun zu fragen, warum diese Liebeslyrik dem „unerfüllten Sehnen“ gewidmet ist, gerät Schimmel – wie immer, wenn es Islamisches zu beschreiben gilt – in entrücktes Schwärmen: „Die Unterschiede von Liebendem und Geliebtem werden aufgehoben in der höheren, umgreifenden Einheit der Liebe.“
Die mindestens 4.000 in der Islamischen Republik Iran gesteinigten Schwulen und all jene in islamischen Ländern, die gerade noch ihr Leben retten konnten, sind für diese Verteidiger des politischen Islam und ihre Anhänger, die Verfechter eines kulturrelativistischen Multikulturalismus, zu vernachlässigen: Sie sind eben selbst schuld, wenn sie die Regeln, im Rahmen deren sie Sex haben könnten, verletzen und den westlichen, emanzipierten Schwulen zu kopieren versuchen.
In islamischen Gesellschaften ist nicht das Geschlecht des Objekts das wichtigste Merkmal sexueller Einteilung, sondern auch die Rolle, die im Akt eingenommen wird, ob man Penetrierender oder Penetrierter ist. Erstere sind Männer, letztere Nichtmänner. Zu diesen gehören neben Frauen und Mädchen auch Knaben, Transvestiten, „effeminierte“ Männer und – bedingt – Nichtmuslime, beispielsweise in Gestalt von Touristen. Für die das islamische Mittelalter prägende städtische Mittelschicht gehörten ferner Sklaven, sonstwie Abhängige, Nomaden, Eunuchen oder unterworfene Feinde zur Gruppe der Nichtmänner.
Die meisten Wörter, die im Hocharabischen zwischenmännliche Sexualrollenverteilung beschreiben, beziehen sich auf die so genannte Knabenliebe: Päderastie. Diese wird in etlichen Gedichten, Märchen oder Liedern des arabischen Mittelalters erwähnt und oftmals gepriesen. So ist es auch ein Gemeinplatz für Ethnologen, Soziologen oder Orientalisten, von der „allgemeinen Verbreitung der Knabenliebe in der arabischen Welt“ zu sprechen, zumeist jedoch ohne diese zu objektivieren. Die Päderastie muss zudem deutlich von der Homosexualität abgegrenzt werden, denn „das Sexualobjekt ist in diesem Falle nicht das gleiche Geschlecht, sondern die Vereinigung beider Geschlechtscharaktere“ (Freud) bzw. die Abwesenheit von Charakteristika beider Geschlechter.
Für den Mann ist der Knabe – da er wie die Frau leicht zu beeindrucken, unerfahren und sexuell unanspruchsvoll sei – insofern leichter erreichbar als andere Nichtmänner wie Frauen, als er ihm weniger fremd ist als die Frau und er – durch die strikte Trennung von männlicher und weiblicher Sphäre – leichter zu haben ist.
In den Hauptstädten der islamischen Reiche des Mittelalters wurde die Schönheit der Knaben von etlichen Dichtern, darunter so berühmte wie der Hofdichter des Kalifen Harun al-Raschid, Abu Nuwas, gepriesen. Exponierte schwule Geschichtsschreiber wie John Boswell versuchten mit dieser Tatsache ihre Theorie eines angeblich „schwulen“ arabischen Mittelalters zu belegen. Die Gedichte, aus denen sie dies meinen schließen zu können, bestätigen allerdings eher, dass die umschwärmten Knaben sich in einer Position des Nichtmanns, des Ohnmächtigen, befanden und für ihre „Liebe“ entweder bezahlt wurden oder zur Ausübung des Sexualaktes oftmals überwältigt oder überlistet werden mussten. Der Islamwissenschaftler Arno Schmitt bemerkt hierzu treffend: „Und ich jedenfalls halte eine Beziehung, in der einer spricht und einer schweigt, in der einer spricht und der andere besprochen wird, in der einer Sex will und der andere Geschenke, nicht für ‚schwul‘.“
Wird ein Knabe penetriert, ist dies in den Augen des gesellschaftlichen Umfeldes nicht so schlimm. Er hat es dadurch nur „schwerer“, zum Mann zu werden. Die Schmach ist ferner je nach sozialer Schicht des Knaben und des Penetrierenden (und natürlich von Region zu Region) unterschiedlich. Ist die Familie des Knaben arm, wird Prostitution oft geduldet. Ist der Penetrierende eine hoch gestellte Persönlichkeit (etwa ein Nachfahr des „Propheten“ oder ein Mullah), wäre es zudem zutiefst ungehörig, sich darüber zu beschweren.
Da der Schaden nicht so sehr im Penetriertwerden des Knaben als vielmehr im Bekanntwerden des Sachverhalts liegt, reden die meisten Knaben nicht davon und „vergessen“ es, um nicht weitere Männer zu ermutigen, es auch zu versuchen. Dies liegt daran, dass in islamischen Gesellschaften nicht so sehr deviantes Verhalten abgelehnt wird wie vielmehr nonkonformistisches (oder rebellisches). Solange man die Gültigkeit der Regeln nicht infrage stellt und sein regelwidriges Verhalten gekonnt kaschiert, spielt das Umfeld meist mit.
Problematisch wird die Angelegenheit für die Eltern (und somit auch für den Knaben) aber nicht nur, wenn der Sachverhalt bekannt wird, sondern – noch viel schlimmer – wenn der Junge den Akt nicht nur über sich ergehen lässt, sondern dabei Lust empfindet (oder ihm unterstellt wird, dass er Lust empfindet). Dies kann unter anderem dazu führen, dass er in seiner sozialen Gruppe, also bei männlichen Jugendlichen, als Sexualobjekt „herumgereicht“ wird. Dies erhöht die Gefahr, dass er auch als Erwachsener penetriert werden will, was als wesentlich schlimmer gilt, wie wir nun sehen werden.
Weil die Penetration als ein besonders männlicher und aggressiver Akt wahrgenommen wird, ist sie Ausdruck einer Höherstellung des Penetrierenden, sei es einer schon festgestellten oder einer erst durch den Akt selbst hergestellten. Doch daraus ergibt sich auch folgendes Problem: Einerseits kann man sich zwar der Penetration durch einen Mann rühmen, andererseits ist die Penetration durch einen muslimischen Mann gesellschaftlich und politisch geächtet, da sie ein Mitglied des Kollektivs schädigt, indem sie ihn zum Nichtmann macht. Die volle Verachtung der Gesellschaft trifft daher auch nicht den, der Männer oder Knaben penetriert, sondern den, der sich der Fortpflanzung entzieht, der sich seiner Lust unterwirft und somit „unrein“ wird. Wer sich nicht nur mit jungen Männern, sondern auch oder vor allem mit Frauen abgibt, ist dadurch über Zweifel weitgehend erhaben, wobei es natürlich am sichersten ist, wenn er Vater wird – die Männlichkeit wäre ihm dann nie mehr ganz zu nehmen.
Ein gesellschaftliches Schema für eine Sexual- oder Liebesbeziehung zwischen machtgleichen Männern gibt es also nicht, so wie es auch keine gleichberechtigten heterosexuellen Beziehungen gibt. Daraus folgt auch, dass Sexualität mit einem (platonischen) Freund ebenfalls ausgeschlossen ist.
Während im bürgerlichen Westen Liebe, Sexualität, Intimität und Ehe als idealerweise verbunden gedacht wurden, fielen sie in den Vorstellungen der islamischen Gelehrten auseinander. Liebe wurde als – meist nicht erfüllbares – Sehnen nach einer Frau (oder auch einem Knaben) aufgefasst. Liebe kann aber auch mit echter Freundschaft unter Gleichen einhergehen. Eine solche Freundschaft ist eine intime Beziehung, eingegangen aufgrund persönlicher Werte. Freundschaft ist nicht wie Sex mit Frauen ein relativ isoliertes Segment des Lebens, sondern prägt vielmehr die Gesamtattitüde. Im Islam werden also Liebe und Freundschaft mit einander verbunden, im Westen Liebe, Beziehung und Sexualität.
Daraus folgt, dass die einzige Form von Sexualität, die ein gesellschaftliches Schema hat, Dominanzsexualität ist, die zwar durchaus Gefühle zulassen kann, diese aber extrem über das Einnehmen von Rollen kanalisieren muss. Der passive, schwache „kränkliche“ Mann, der auch schon als Knabe an seiner passiven Rolle „Gefallen“ gefunden hatte, passt dabei ebenso ins Beuteschema des aktiv-aggressiven Penetrators wie ein nichtmuslimischer europäischer (Sex-)Tourist. Viele von ihnen lassen sich penetrieren, was sie psychologisch besonders attraktiv macht, weil sie einerseits den als stark, reich und fortschrittlich geltenden Westen symbolisieren, der die arabische Welt ausbeutet, sie aber andererseits durch den Akt der Penetration und aufgrund ihrer Unkenntnis von Sprache und Sitten besiegbar erscheinen.
Westliche Sextouristen bieten dem arabischen Mann aber auch die Möglichkeit, sich relativ gefahrlos selbst penetrieren zu lassen: erstens, weil sich aus einem einmaligen oder zeitlich begrenzten Sexualkontakt kein Recht auf jederzeitiges Penetrieren ableiten lässt; zweitens, weil der Tourist dem arabischen Mann schwerlich durch Gerede die Ehre rauben kann; und drittens, weil der arabische Mann die passive Rolle als Dienstleistung ausgeben kann, für die er bezahlt werden muss. Der europäische Sextourist hingegen ist bestenfalls naiv, will er im Nahen Osten seine große Liebe finden. Er profitiert höchstens ganz direkt von der brutalen Frauenunterdrückung und ist daher auch kein Unschuldslamm, das von arabischen Männerallmachtsfantasien entmännlicht wird.
Schwule Sextouristen scheinen sich eher auf der Flucht aus einer Gesellschaft zu befinden, in der in den letzten dreißig Jahren für Schwule und Lesben eine Vielzahl von Verbesserungen und Rechten erkämpft und erreicht wurden. Sie sehnen sich – so sieht es aus – nach etwas anderem, etwas „Authentischerem“ als Klappensex und schwuler Subkultur. Fündig werden sie, so ihre Hoffnung, in den arabischen Großstädten, wo es für Männersex eben keiner Bezeichnung, scheinbar keiner Schublade bedarf, sondern es „einfach so“ geschieht. Die „Wüstensöhne“, die jene Erfüllung versprechen, die in Köln oder Berlin nicht gefunden wird, werden so zu einer autoritären Projektionsfläche der gescheiterten Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung. Diese ist nämlich trotz aller Antidiskriminierungsgesetze, trotz Homoehe und breiter schwuler Infrastruktur nicht erreicht.
Für den in Deutschland lebenden Durchschnittsmann – egal ob deutscher oder nichtdeutscher Herkunft – gilt nach wie vor, dass eine seiner größten Ängste, die ihn umtreiben, die vor der eigenen Homosexualität ist. Er unterscheidet sich also von den latent homosexuellen, autoritären islamistischen Helden wie Mohammed Atta nur punktuell. Der Unterschied liegt im Ideal: Das bürgerliche Glücksversprechen für den Einzelnen hält zumindest am Ziel, ein glückliches Leben zu leben, fest. Der islamisch/islamistische Slogan „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ hingegen nicht.
CHRISTIAN KNOOP, 28, ist Soziologe und promoviert bei Martin Dannecker zum Thema Geschlechterverhältnisse und Homosexualität im Nahen Osten