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Nur Täuschung ist für mich Gewinn

■ betr.: "Mein Herz ist wie erfroren ..." von Hermann Schlösser, taz vom 13.10.90

betr.: „Mein Herz ist wie erfroren...“ von Hermann Schlösser, taz vom 13.10.90

„Mein Herz ist wie erfroren...“, wählte Hermann Schlösser vielversprechend eine Zeile aus Wilhelm Müllers Gedichtzyklus Die Winterreise als Überschrift für seinen Artikel über die Eiseskälte in Schuberts gleichnamigem Liederzyklus. Die Erwartungen wurden jedoch nicht erfüllt, Schlössers Artikel gleicht in weiten Teilen eher einem Reise- und Wetterbericht; wovon die Winterreise Schuberts handelt, davon erhält der Leser keinen Einblick. Schuberts Winterreise ist unvergleichlich radikal. Es ist eine Reise nicht durch eine Winterlandschaft, wie sie das taz- Reise-special mit einem touristischen Gebirgsfoto unterlegt. Es ist eine Reise nach innen, und die Eiseskälte ist die des äußeren und inneren Zustands der Gesellschaft und der Hauptfigur im Gedichtzyklus. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“, so beginnt Schuberts Gedichtzyklus. Doch die Fremdheit ist nicht nur die des Fremden in der neuen Stadt, die Fremdheit beschreibt die des Künstlers in einer Gesellschaft, in der seine Stellung als Veränderer die Isolation nach sich zieht. [...]

Er ist gescheitert, der Liederzyklus beginnt, als die Geschichte bereits vorbei ist, das Scheitern in Liebe und Leben nicht mehr zu ändern. Und so beschreiben Schuberts Lieder nicht, wie Schlösser behauptet, eine Flucht; es gibt nichts mehr, wovor zu fliehen sich lohnen würde. Der vermeintlich Fliehende hat mit dem Leben abgeschlossen, er begibt sich auch nicht auf eine Reise durch eine Winterlandschaft, sondern auf eine innere Reise in den Tod. Der Winter ist Synonym für die Erstarrung der Welt, für die Eiseskälte der Menschen, für die trostlose Seelenlage. Wilhelm Müller und noch mehr Franz Schubert sprechen von Todessehnsucht, und das in 24 Liedern. Das „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ berichtet nur auf den ersten Blick von des Gesellen Ein- und Auszug in eine Stadt. In Wirklichkeit berichten diese beiden Zeilen von der Fremdheit gegenüber der Welt, davon, wie man als Fremder auf die Welt kommt und wie manche heimisch werden in derselben, und weil sie Fremde bleiben in ihrem Leben auch als solche wieder aus der Welt ausziehen. [...]

Schlösser schreibt leider hauptsächlich von Müllers Texten und nicht, wie in der Unterüberschrift behauptet, über Schuberts Liederzyklus. Und so stellt er zur Musik fast nur fest: „Moll-Tonarten.“ Wenn Schuberts Welt so einfach wäre! [...] Nur ist Schubert, dafür gibt es viele Beispiele von den Streichquartetten über die 8. Symphonie bis hin zum großen C-Dur-Streichquintett, nirgends so tragisch, so melancholisch wie dann, wenn er in Dur komponiert. Schubert hat entdeckt, daß Dur-Tonarten herzzerreißender klingen können als vieles in Moll. Schuberts Dur ist schwer, die von ihm verwendeten Terzverwandtschaften, die Farbwechsel eines Zentraltons, seine harmonischen Kreisbewegungen (de la Motte) verschaffen dem Tongeschlecht Dur ungeahnte Tiefen der Melancholie, des Zweifelns an der Heiterkeit und Leichtigkeit.

Schuberts Liederzyklus endet mit dem Lied „Der Leiermann“. Bei Schlösser endet hier die „Flucht“ indem der „Leierkastenmann“ (so Schlösser) verlockt: „Darf ich mit dir gehn?“, fragt Schlössers Geselle den Leierkastenmann, und Schlösser irrt hier gleich doppelt. Denn Müller schreibt ja nicht etwa von einem Leierkasten, sondern von einer „Leier“, dem mittelalterlichen Instrument. „Und seine Leier steht ihm nimmer still“ und „Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“ Da ist nicht der Leierkasten in Berliner Hinterhöfen gemeint — wirklich nicht. Und Schlösser hat scheinbar die Figur dieses Leiermanns am Ende von Schuberts Winterreise nicht verstanden: Hier spiegeln Müller und Schubert ihre eigene Rolle, sehen sich „drüben hinter Dorfe“ gleichsam selber — der romantische Künstler als Außenseiter, „barfuß auf dem Eise“, also auf dünnem Boden, der leicht bricht, arm dazu, denn „sein kleiner Teller bleibt ihm immer leer.“ „Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an.“ Schubert redet hier in kargen Quinten von sich selber, „er läßt es gehen, alles, wie es will“, nur seine Musik bleibt als Kontinuum der düsteren Existenz, „und seine Leier steht ihm nimmer still“, das ist Abbild und Entwurf zugleich.

Das ist ebenso radikal in seiner Knappheit wie aktuell. Schuberts „Winterreise“ hat etwas von der düsteren Dramatik, schildert Katastrophen des wirklichen Lebens, Zusammenbrüche; das sind Klagegesänge und apathische Entrückheiten, die auch in Beethovens opus 111, in einigen Stücken von Chopin, im 1. Klavierkonzert von Bartok oder im Blues zu finden sind. Schuberts „Winterreise“ handelt von uns allen, die wir am Rande stehen, die wir nicht dazugehören wollen, die wir von dem Leben wissen und einen anderen Entwurf haben davon. Schubert spricht von uns, die wir fremd sind in einer kargen, winterlichen Realität. Bertold Seliger, Fulda

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