: Nüchterne Parteilichkeit
■ Eine Dokumentation zu den Wandbildern in der Hafenstraße ist erschienen
Ausrasiertes Achsel- und beidseitig reduziertes Schamhaar: Auf den Terrassen und Liegewiesen der Republik zeigt sich auch in diesem Sommer eine anhaltende Tendenz zur verschärften Gepflegtheit. Es ist ein interessantes Symptom: In der Glätte der vom Eigengeruch befreiten Haut spiegelt sich gleichsam von fern die smarte olympiareife Utopie einer technologisch optimierten Zukunft.
In Zeiten solch überschlanker Hygiene kann jeder Blick in die verbliebenen Schmuddelecken des Landes zum unverhofften Genuß werden. Solche Blicke ermöglicht eine soeben erschienene Dokumentation des St.-Pauli-Archivs: Ihr Gegenstand sind die Wandbilder auf den Fassaden der Häuser in der Hafenstraße.
Zu den brisanten Themen der Hamburger Politik gehört die Hafenstraße derzeit nicht. Gleichwohl: Es gibt wohl keinen Hafenrundfahrtskapitän, der die bunten Häuser nicht täglich mit stumpfem Biedersinn kommentiert, kaum einen Touristenfinger, der hier nicht – vom faszinierten Ekel bewegt – auf den Auslöser drückt.
Von solchem Voyeurismus ist das Buch von Monika Sigmund (Text) und Marily Stroux (Fotos) frei. Sigmund läßt vor allem die Bewohner der Häuser mit ihren Erinnerungen an die Entstehung der Bilder zu Wort kommen. Ihre „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist) wird beobachtbar – mit allen Vorzügen und Nachteilen, die eine solche Ausstellung von O-Tönen bietet.
Die ungleich souveränere und stärkere Seite dieses Buches sind die (zum Teil farbigen) Fotos. Marily Stroux ist eine so neugierige wie kenntnisreiche, so entschiedene wie freundliche Sympathisantin. Ihre Sache ist weder das betroffenheitsselige Menscheln noch die visuelle pathetische Geste. Wenn es so etwas gibt wie nüchterne Parteilichkeit, so ist sie in diesen Fotos präsent.
Die „redefreudigen Häuserwände“ der Hafenstraße würdigt die Fotografin mit einer detailfreudigen Präzision, die sich nicht nur auf die wuchernde Montagestruktur der Bilder einläßt, sondern auch deren umkämpfte Geschichte dokumentiert. Fast alle Bilder sind dem Sauberkeits- und Kontrollinteresse der Administration und seiner in der Regel martialisch gerüsteten Organe abgetrotzt worden. Immer wieder griff die Polizei ein – mit Tünche und Farbrolle, mit Knüppel und Wasserwerfer.
Mit den Bewohnern der Häuser in der Hafenstraße war und ist kein Staat zu machen. Das scheint deshalb unerträglich gewesen zu sein, weil hier welche wohnten und wohnen, die – wie Marily Stroux es in ihrem Vorwort sagt – „mir, egal wer ich bin, der da vorbeigeht, was sagen wollen“. Wo die Wände „nicht nach innen, sondern ... nach außen“ leben, wo sie bebildert und beschriftet werden, sind ästhetische Qualitäten nicht primär nach Kriterien der internen Stimmigkeit oder der malerischen Differenziertheit zu diskutieren. Ästhetische Ereignisse sind diese Bilder nach Maßgabe der einfachen Bedeutung des griechischen Wortes aisthesis, gleich Wahrnehmung. Sie haben herrschender Wahrnehmung im Wege gestanden, haben es „zu bunt“ getrieben, so daß man militant Anstoß nahm. Das zeigen die Fotos der aus Griechenland kommenden Marily Stroux auf eine Weise, die am besten mit einem Diktum Brechts zu benennen ist: Sie gehören zum Einfachen, das schwer zu machen ist – erst recht in einer Zeit, in der bereits Achselhaare anstößig werden.
Martin Jürgens
„Zu Bunt“, 108 S., 20 Mark (erhältlich auch beim St.-Pauli-Archiv, Wohlwillstr. 28, 20359 Hamburg)
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