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■ NormalzeitSchwänke armseliger Männerschwankungen

Im Alten Schlachthof an der Landsberger Allee, der irgendwann zu einem Wohn- und Gewerbequartier mit Öko- und Künstlertouch developed wird, findet derzeit eine fein inszenierte Ausstellung über die dort einst entwickelte Kunst des Tiertötens, -verarbeitens und -vermarktens statt. Und zwar in der Alten Darmschleimerei. Neulich stellten etwa zwölf Mitarbeiter der Zeitschrift für Wirtschaft und Kultur Sklaven dort in Form einer Reihum-Lesung die Funde ihrer Franz-Jung-Recherche vor.

Es stimmte alles an dieser Veranstaltung: Die Textauswahl war konzentriert auf die Desertion, Inhaftierung und anschließende Psychiatrisierung des Kriegsfreiwilligen, Dichters und Rätekommunisten Franz Jung um das Jahr 1915, wobei auch Jungs spätere literarische Verarbeitungen dieser Ereignisse vorgelesen wurden. Dadurch gelang ein erkenntnisreiches Oszillieren zwischen einer größenwahnsinnigen Homme- de-lettres-Existenz als Täter, der sich bei den Garderegimentern bewirbt, um sich an der Ostfront innerlich zu reinigen, und einem elaborierten Opfer-Minderwertigkeitskomplex, den Jung aufbaute, um seine Fahnenflucht als psychische Schädigung durchzukriegen.

Polizeiverhörprotokolle von Aussagen seiner Frau Margot, ihres Arztes Dr. Serner oder seines Psychoanalytikers, Otto Groß, Klinikarzt-Gutachten, die mit onaniebedingtem Schwachsinn oder Schädelmessungen argumentierten, selbstverfaßte Lebensläufe für die „Akte“, Bemerkungen von Nachtschwestern, Briefe an Boheme-Freunde. Zwischen den beiden Polen „Täter sein wollen“ und „Opfer werden“, welch letzterem der „Belletristik- und Handelsredakteur“ Franz Jung um seiner Selbsterhaltung willen auch noch zuarbeiten mußte, taten sich Graduierungen um Graduierungen auf.

Gleichzeitig erfuhren wir in der Darmschleimerei-Lesung, wie er immer noch unter den Nachwirkungen einer an der polnischen Front eingefangenen Ruhr litt und sich vollschiß, seine Beinkleider beschmutzte, stank, Durchfallrückfälle bekam, erneut „die Kontrolle über seine Entleerung verlor“. Dabei war Jung nicht desertiert, er wollte eigentlich nur einige Tage wieder Kräfte sammeln.

Außerdem mußte er „die Sache mit dem Kind in Ordnung bringen“, mit dem es heillose Trennungs-Sorgerechts-Eifersuchts-Probleme gab, schon bevor er sich freiwillig, dabei verschiedene Gebrechen verheimlichend, an die Front empfohlen hatte. Das dortige Stahlbad brachte ihm keine Klarheit, vergrößerte eher seine „hochgradige Verwirrung“. Dann, während der psychiatrischen Befragungen, schlägt gerade seine Bereitschaft zur Aufarbeitung gegen ihn aus – ein Arzt notierte: „Das Vermissen jeglicher Scham, z.B. bei der Schilderung seines Eheunglücks, läßt ihn unzweifelhaft als schweren Psychopathen erscheinen.“ Trotz dieses vernichtenden Urteils kommt Jung wenig später frei: Der Schutzverband der Schriftsteller rührte derart die Werbekampagne, daß ein Bewacher ihm schließlich fünfzig Pfennig für die Straßenbahn gibt und ihn wegschickt. Franz im Glück.

Ich kenne solche Oszillationen selbst, gerade habe ich einen Widerspruch fürs Finanzamt verfaßt – und dabei auch zwischen Größenwahn, Querulanz, Unterwerfung und Opfer auszubalancieren versucht. Widerlich! Recht besehen, jedoch der Wirklichkeit entsprechend: einerseits Leute großkotzig zum Essen einladen und andererseits kurz davor stehen, obdachlos zu werden. Helmut Höge

wird fortgesetzt

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