■ Normalzeit: Apollo 16 vs. Apoll 96
Was im Stadtforum 1992 noch als „Worst-Case-Study“ abgetan wurde, hat ein Westberliner Immobilienhändler jetzt als „einzige Hoffnung für die Stadt“ bezeichnet: die schleichende Ansiedlung von Polen und Russen. Bei letzteren bin ich davon überzeugt, daß sie mit ihrer Wohlerzogenheit bloß ihre Verrücktheit ausbalancieren.
Das wurde mir auf der letzten Doppelveranstaltung im Haus der russischen Kultur in der Friedrichstraße klar: Im „Club Dialog“ hatten etwa 20 Damen sich Viktor Jerofejew eingeladen. Der Dichter erschien mit seiner Germanij-Muse Gabriele Riedle, mit der er eine Litera- Tour wolgarunter für das Zeit- Magazin absolviert hatte. Daran schloß sich gerade eine zweite Bootstour rheinaufwärts an: Diese Billigretourkutsche (eigentlich hätte es der Nil sein sollen, aber die Zeit drängte auf Spesenbeschränkung) ist jedoch noch nicht veröffentlicht, so daß man nicht weiß, ob auch hierzuwasser beider Lustschreie die ganze Mannschaft bis rauf zum Kapitän beunruhigten. Dafür empörten sich darüber schon mal etliche von Musen bisher ungeküßte deutsche Jungdichter (in konkret, Freitag und taz).
Während Jerofejew im vierten Stock charmierte, traten im ersten Stock, in Nataschas „Galery Golizin“, der US-Astronaut Charles Duke und seine Ehefrau Dotty auf. Den beiden ging es primär um ihren Gottesbeweis. „Charlie“ leitete den Vortrag mit seinem Spaziergang auf der dunklen, „erdabgewandten Seite des Mondes“ und seiner anschließenden Ehekrise ein: „Wenn ich zu Hause war, gab ich meinen Kindern Befehle, als wäre ich ein General, der ich auch tatsächlich war.“ Dotty wurde derweil immer depressiver: „Als er vom Mond zurückkam, hatte er sich nicht geändert!“ Dazu konnte man für drei Mark ein himmelblaues Büchlein von ihr erwerben: „Die Gattin eines Astronauten – Von der Traurigkeit zur Freude“. Ich unterhielt mich anschließend noch mit dem letzten – ebenfalls religiös gewordenen – US-Kommandanten des Spandauer Kriegsverbrechergefängnisses Eugene K. Bird, der in einem von Albert Speer im Knast entworfenen Haus in Dahlem lebt und jetzt Fachhändler für Ofenrohrreiniger ist. Er meint, Martin Bormann habe nach dem Krieg für den CIA gearbeitet und wäre erst 1992 in Argentinien gestorben, einer seiner Söhne sei von Walter Scheel adoptiert worden, und Rudolf Hess, der zuletzt zum Christentum zurückfand, sei von den Westalliierten ermordet worden, was man anschließend mit Sekt gefeiert habe. Der Nazismus, der Wahn von der Überlegenheit einer Rasse, sei im übrigen nicht tot, sondern lebe in Amerika weiter.
Während sich im vierten Stock die russischen Damen mit dem Dichter und seiner langsam mißmutig werdenden deutschen Freundin um einen reichlich gedeckten Tisch scharten und den Wodka kreisen ließen, erzählte mir im ersten Stock vor der Galerie ein ehemaliger russischer Offizier bei einem Glas Sekt von seiner kurzen Diskussion mit Jerofejew: „Er sagte, er gehöre zur neuen russischen Literatur, die die dunkle Seite des Menschen behandle. Ich bin aber vor allem an der hellen Seite interessiert. Das sei Aufgabe der klassischen Autoren, wie Tolstoi zum Beispiel, gewesen, erwiderte er mir. Nun, ich weiß immer noch nicht, ist er ein Lügner oder keiner?!“ In der Galerie wurde der Astronaut Charlie inzwischen unter Hinweis auf den gottlosen Jurij Gagarin, den man an russischen Brandwänden gerne als blau- weißen Engel darstellt, gefragt, ob es im Weltraum auch Engel gäbe.
Der Abend endete im Pasternak: Wo sonst der Neffe von Boris und der Autor des „Butt“ penetrant aneinander vorbeiredeten, kam Jerofejew immer wieder aufs „Ficken“ zu sprechen. Er sah dabei ausgesprochen gut aus, und auch Gabriele Riedles Gesichtszüge entspannten sich langsam. Über Viktors nächste Lesungen in Hamburg und München meinte sie: „Hoffentlich sind da nicht wieder so viele Weiber.“ Der Dichter lächelte darob artig.
Ich machte mir die ganze Zeit diskret Notizen – „Anekdoten“, die von der Germanistin Annett Gröschner mit „annektieren und dotieren (lassen)“ auseinander- ethymologisiert werden. Meine Begleiterin, eine armenische Buchhändlerin, machte das ganz nervös: „Du bist ja schlimmer als die Stasi!“ Sie haderte also noch immer mit der Marktwirtschaft – was bei einer Armenierin durchaus verwundern darf. Helmut Höge
Wird fortgesetzt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen