■ Normalzeit: Alle Ostwinde – auf einen Blick
Die Reste der Redaktion des Infos Ostwind treffen sich allwöchentlich sinnigerweise im Restaurant Ostwind des südchinesischen Germanisten Fang Yü (in der Husemannstraße). Die Herausgabe des Infos war Teil der Aktivitäten der ostdeutschen Betriebsräteinitiative gewesen, wobei der Name auf ein gleichnamiges Ölbild von Max Lingner anspielte, mit dem der Maler 1957 einen sozialistischen Supermann nebst Supergirl gleichsam im Fluge erhascht hatte.
Fang Yü hatte dagegen mit seinem Restaurant Ostwind auf eine Mao-Sentenz angespielt, die sich wiederum auf den Volksspruch „Der Ostwind bläht ihm die Segel“ bezog, womit erklärt wird, warum jemand Glück hat. Beide „Ostwinde“ waren also gewissermaßen gegen die nach der Wende von Westen nach Osten sich ausbreitende „Deutungsmacht“ (Wolfgang Thierse) des Kapitals gerichtet gewesen. Jetzt gibt es aber noch einen weiteren „Ostwind“ – und der bläst widersinnigerweise genau in die entgegengesetzte Richtung: vom Westen nach Osten bis nach Sibirien! Ausgedacht hat sich diesen Quatsch die Deutsche Bahn AG, die einfach ihren neuen West- Ost-„Containerganzzug“ so nannte.
Dieser fährt fahrplanmäßig inzwischen vier- bis fünfmal in der Woche vom Güterterminal Hamburger und Lehrter Bahnhof zum Rangierbahnhof Bekassowo bei Moskau. Von dort geht es entweder weiter zum Moskauer Knoten oder in andere GUS-Staaten. Vermarktet wird der West-Ost- Containerganzzug von der Transrail Berlin, wo man der Meinung ist, der „Ostwind“ beweise, daß die Bahnen durchaus in der Lage seien, wettbewerbsfähige Dienste anzubieten. Bisher werden noch 80 Prozent aller Westgüter für den Osten über die Straße abgewickelt, aber wegen der zunehmenden Mafiaüberfälle rechnet man mit einem ebenso zunehmenden „Ostwind“-Aufkommen. Die Kapazitäten seien da: Täglich könnten sogar mehrere Containerganzzüge im Eisenbahnkorridor Berlin–Moskau abgefertigt werden und die Umschlagskapazitäten im Moskauer Eisenbahnknoten seien derzeit – wegen der Wirtschaftskrise – nur zu 10 Prozent ausgelastet. Dabei würde laut Transrail-Präsident Werner Albert der „Ostwind“ noch wirtschaftlicher werden, sicherer könne er jedoch kaum werden, denn bisher sei noch kein einziger Container abhanden gekommen.
Schon kursieren die ersten Flugblätter über den „Ostwind“ in einigen einschlägigen Edellokalen Berlins. In ihnen ist zu erfahren, daß der Zug bald noch attraktiver als bisher wird, weil die Abfertigungszeiten an der deutsch-polnischen Grenze, die derzeit noch acht Stunden betragen, verkürzt werden, ferner will man die Transportzeiten zwischen dem Rangierbahnhof Bekassowo und dem Moskauer Knoten um einen Tag reduzieren. Auf den dortigen Terminals soll außerdem die „Sicherheit“ verstärkt werden. Weitere Preissenkungseffekte verspricht sich die DB-Vermarktungsgesellschaft vom Gegenzug, der eigentlich „Ostwind“ heißen müßte, weil er – zunächst einmal wöchentlich – westwärts abgehen soll. Dafür muß derzeit aber erst einmal noch schwer akquiriert werden.
All dies beweist: Unsere „Ostwinde“ haben immerhin ein „positives Image“ hinterlassen, im Gegensatz etwa zum Glühlampenwerk Narva, aus dem das Betriebsräte-Info 1992 hervorging: Das leere Werk wird jetzt von Roland Ernst „entwickelt“. Der ließ dafür zunächst den Begriff „Narva City“ auf seinen „positiven Klang hin prüfen“ – mit negativem Ausgang: Denn jetzt heißt das Entwicklungsgebiet „Oberbaum City“! Helmut Höge
wird fortgesetzt
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