■ Normalzeit: Die Pflicht zum Unglücklichsein
Eine Harvard-Amerikanerin auf Besuch entsetzt sich über die heruntergekommenen Physik- und Mathematik-Institute der TU. „Aber“, wie die russischen Kommunistinnen in den sibirischen Straflagern zu sagen pflegten: „Alles ist relativ!“ Wir (Sozialwissenschafts-Studenten) empfanden die Bedingungen bei den Naturwissenschaftlern dagegen als geradezu luxuriös. Außerdem: In Amerika kosten die Unis was, viele können nicht studieren. Die Amerikanerin kontert: „Dafür zahlen immer mehr Eltern für die Ausbildung ihrer Kinder – ein Angestellten-Ehepaar legt jetzt schon für seine kleinen Kinder Gelder fürs Studium an: bei einem Pensionsfonds.“ Ich: „Diese Idioten! Damit hebeln sie doch ihre eigenen Lebenspläne aus – indem diese Fonds, je stärker sie werden, desto mehr darauf dringen, gerade die Firma zu schließen und ins Ausland zu verlagern, bei der der Ehemann angestellt ist, und wo er so viel verdient, daß er sogar noch was davon anlegen kann: Woanders arbeiten die Angestellten für viel weniger.“ Die Amerikanerin: „Dann unternimmt dieser Mann was anderes oder macht sich selbständig.“
Oder auch nicht, aber wir reden über Gewinner, mit denen es so lange aufwärts geht, wie die Verlierer noch keine kritische Masse bilden. Die Amerikanerin beschwört kein Phantom, ebensowenig ich, der auf die hart erkämpfte Errungenschaft „mißmutige Verkäuferin, die zäh ihren öden Arbeitsplatz verteidigt“ besteht. Wir brauchen ein kollektives Gegengewicht zu der Mainstream-Ami-Individualität! Nichts anderes tritt derzeit beim Ringen um neue sozialdemokratische Doppelstrategien zutage. Jeder Müllarbeiter weiß, daß er seine Ansprüche herunterschrauben muß. Aber man muß doch auch den Anfängen wehren, sonst machen sie mit einem, was sie wollen! Das Wehren geht nur kollektiv, die Neuorientierung inklusive Umschulung ist individuell- mental immer leichter, aber real schwieriger werdend. Bei einer satten Mehrheit äußert sich dieser existentielle Eiertanz schon gewohnheitsmäßig in der Sonntags-Wahl einer angebotsorientierten Partei (CDU/FDP) bei gleichzeitigem Votum für eine nachfrageorientierte Politik.
Im Grunde wollen wir also fast alle mehr Neoliberalismus, weil wir gegen Parteienpfründen, Korruption und Protektionismus sind, weil sonst die soziale Gerechtigkeit vollends in die Binsen geht. „Damit jemand seines eigenen Glückes Schmied sein kann, muß er erstmal was zum Schmieden haben – mindestens einen Hammer!“, so sagte es neulich die Köpenicker Kämpferin Minka Dott. Bei den Ostlern, die halbwegs erfolgreich bisher waren, gibt es einen deutlichen Hang zum Ausweichen vor dem „Eiertanz“: Immer mehr kaufen sich Landhäuser, um sich gärtnerisch zu erschöpfen. Die neueste Erschöpfung besteht aus Solidarität und Internet. Da wird die Harvard-Amerikanerin missionarisch: Der Vorsitzende der illegalen Gewerkschaftsdachorganisation in Südkorea „kommuniziert“ damit ebenso wie der Commandante Marcos. Big Deal (statt New Deal)! Helmut Höge
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