■ Normalzeit: Die letzten Bürger des Vernunftstaates
Als die alteingesessene Berliner Russin Lucinka ihr Café am Savignyplatz „Hegel“ nannte, konnte sie nicht wissen, daß es einmal eine Nostalgie-Quelle ersten Ranges für die exilierte Sowjet-Intelligenz werden würde – nur hoffen. An der Wand hängt ein Zitat von Lew Tolstoi: „Ein Mensch, der Hegel nicht kannte, hätte nicht mitreden dürfen!“ Die vorrevolutionäre russische Linke war besessen von Hegel – und dann von Marx. Einige übertrugen sogar Hegels „Logik“ in Verse! Von da bis hin zu den postsowjetischen Lyrikabenden im Café Hegel jetzt – ist es eigentlich nur ein kleines historisches Arschrunzeln. Gestern abend trat dort der Petersburger Dichter, Schauspieler, Regisseur und wunderbare Sänger Alexander Kopanev mit Gitarre auf. Sein Romantik-Repertoire reichte von Puschkin über russische Liebeslieder bis zu eigenen Kompositionen, wozu auch ein Auftragslied über den neuen Wodka „Davidoff“ gehört, das er unlängst im KaDeWe präsentierte. Kopanevs erste CD – „Geschlossene Sommerhäuser“ (!) – ist ein echtes kollektives Berlinprodukt: Das Cover wurde fotografisch im „stillen Museum“ von Nikolai Makarow in der Linienstraße gestaltet (Makarow zieht übrigens bald weiter nach New York: „die nächste Etappe“); die Produktion geschah im „Puschkin-Studio“, und vorfinanziert wurde das Ganze von Karine Wisbar. Die ehemalige armenische Buchhändlerin sorgt sich auch bei anderen Musikern um Absatz, Auftritte und Presse – und verbindet dies locker mit ihrem Wunsch nach Geselligkeit. So kommt alles aufs schönste zusammen. Und Karine kann fast jeden Abend irgendwo fröhlich-postsowjetisch zusammensitzen. Die Übersetzung der Texte von Kopanev leistete die Hegel-Wirtin, Kopanevs französische Freundin war hernach für die Aufführungskritik zuständig. Am Klavier begleitete ihn zuletzt Sascha, der ansonsten eine Anstellung an der Ballettschule in Mitte hat. Zu den Fans gehörte eine Kindergärtnerin vom jüdischen Hort in Zehlendorf sowie eine Mitarbeiterin vom Club Dialog im Haus der russischen Kultur, wo gerade ein Abend mit der Poetin Olga Sawadowskaja stattfand: „O Frauen! Welch wunderbares Geheimnis trägt unser unzerstörbares Geschlecht...“ – Zum Beispiel dies: daß die sowjetischen Frauen auch im Exil das soziale Setting plazieren, auf dem die Männer sich dann informations- bzw. lyrikmäßig austoben (können)! Dies macht sie zäh: „Was den alten Frauen die Rücken gebeugt, hat die Männer längst zerbrochen“, sagt man in Rußland. Auch hier sind inzwischen viele Witwen geworden – oder geschieden und alleinlebend. Und so zieht dann allabendlich diese anschwellende muntere Frauengruppe vom Café Hegel zum Club Dialog, zum Theaterschiff am Urbanhafen, in die Kneipe Voland – und zurück zu Hegel. Einige haben bereits Enkel. Ein paar Männer sind auch noch dabei, und wenn einer ein Auto hat, braucht die Truppe hernach auf keinen Nachtbus zu warten. Neben Kopanev gibt es hier an beliebten Künstlern noch das ukrainische „trio bravo“ und die zwei georgischen Opernsängerinnen. Alle leben mehr oder weniger auf Sozialhilfeniveau, aber die zwei Georgierinnen zum Beispiel sehen so aus, als hätte man sie soeben für ein Berlin- Gastspiel von ihrer gesegneten kaukasischen „Ökonomie“ eingeflogen – und sie sehen nicht nur so aus! Deswegen verwandelte sich dann auch ein gescheiterter Uni-Dozent „aus der Nähe von Hannover“ ihnen gegenüber im Hegel sofort in eine leninähnliche Gestalt (bei der sogar die Halbglatze stimmte), verteilte Handküsse (bei denen die Frauen regelrecht zusammenzuckten) und kaufte dem pakistanischen Rosenverkäufer alle roten Blumen ab, um sie im Lokal zu verteilen. Und plötzlich – noch im Gehen – war die ganze Atmosphäre von Tschechow durchdrungen. Soll man sich nun freuen oder nur wundern? Helmut Höge
wird fortgesetzt
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