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■ NormalzeitHektisches Event-Hopping

„Gesegnet, wer die Welt besucht in ihres Schicksals großer Stunde“, meinte Fjodor Tjutschew im letzten Jahrhundert. In diesem habe ich nicht nur „68“, den deutschen Herbst sowie „89“ und den gesamtdeutschen Herbst, sondern jetzt auch noch die zehnte Berliner Love Parade (ein Oxymoron) „besucht“. Überhaupt haben es die Berliner neuerdings wieder mit Paraden. Schon drängen führende Technofreaks die Bundeswehr, man möge fürderhin doch im Gehen geloben: „Dann würde aber jeder Berliner hallo sagen.“

Wahrscheinlich haben sie recht, aber darüber wollte ich gar nicht sprechen. Im Kreuzberger „Kafka“ haute mich neulich ein befreundeter Rosenverkäufer aus Bangladesch an und meinte: „Gestern wurde wieder ein Rosenverkäufer von jungen Türken oder Arabern angegriffen. Sie haben ihm die Rosen und sein Geld abgenommen. Das ist nun schon der fünfte. Ich weiß auch nicht, was man machen soll. Du mußt unbedingt darüber schreiben. Ganz groß!“

Diese Riesensauerei ist natürlich dem dusseligen juvenilen Wunschdenken geschuldet. Alle wollen sie Handy, Auto, Wohnung, schicke Einrichtung, geile Klamotten und tägliches Clubbing. Dabei haben sie nicht mal Geld für Zigaretten. Während diese armen Rosenverkäufer sich für ein paar Mark allnächtlich die Hacken ablatschen.

Kaum hatte ich mir vorgenommen, mehr darüber rauszukriegen, da erreichte mich schon die nächste Sauerei: Szygmunt und drei andere polnische Bauarbeiter, die seit 1996 für die Firma Denep aus Jelena Gora auf dem Potsdamer Platz arbeiteten, hatten einen Autounfall auf der Rückfahrt von Ciplice zur debis- Baustelle. Als sie mit drei Tagen Verspätung ankamen, hatte man sie bereits entlassen und ihren Wohncontainer neu belegt: mit vier Arbeitern aus Polen, die statt für 1.700 für 1.000 Mark im Monat zu malochen bereit waren. Die vier Entlassenen setzten sich mit ihren früheren Kollegen zusammen, und 31 von ihnen verklagten daraufhin ihre Firma Denep, die ihnen noch insgesamt 140.000 Mark für Überstunden und Urlausgeld schuldet. Angeblich hat die Firma das Geld in Polen in einen Hotelbau investiert. Die Richter in Jelena Gora stellten sogleich den Firmenbesitz sicher. „Ich gehe deswegen davon aus, daß unsere Chancen gut stehen“, meinte Szygmunt, auch „der Mann aus Beton“ genannt.

Im vergangenen Jahr war er bereits „Held“ eines Films über „Die Polen vom Potsdamer Platz“, der demnächst im polnischen Fernsehen und auf arte gezeigt wird. Einige Poliere vom Potsdamer Platz sehen seine und die Entlassung seiner drei Kumpel als direkte Folge dieses Filmauftritts, bei dem er kein Blatt vor den Mund nahm, wie man so sagt. Diesem Verdacht wollte ich genauer nachgehen, denn immerhin hatte der Geschäftsführer von Denep einmal versprochen, den Film im (halbfertigen) debis- Kino auf dem Potsdamer Platz uraufführen zu lassen – und außerdem die vier Hauptdarsteller für die Aufnahmen mit neuer Arbeitskleidung ausgestattet.

Aber es blieb beim Vorsatz, denn dann kam – wie gesagt – die Love Parade, d.h., eine Mitwohnzentrale rief an und vermittelte mir einen zahlungskräftigen Paradeteilnehmer aus Stuttgart, der ein Bett brauchte. Das mußte erst mal neu bezogen werden, dafür verdiente ich aber auch ein bißchen an der Love Parade mit.

Es stellte sich dann heraus, daß der junge Mann bei debis arbeitet und demnächst nach Berlin auf den Potsdamer Platz umziehen muß. Sonst konnte ich jedoch nichts Nachteiliges über ihn in Erfahrung bringen. Manchmal rinnen einem aber auch die Recherchethemen wie heißer Sand durch die Finger. Helmut Höge

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